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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0443
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BESPRECHUNGEN. 439

erträglich, ja wird es schön.« Schefflers Theorie gipfelt in den Sätzen: »Die Stim-
mungen des Wetters hüllen alle Gegenstände ein wie Schleier der Notwendigkeit,
die Atmosphäre breitet sich immaterialisierend um alles Stoffliche mit einer großen
Stimmung der Ewigkeit. Impressionismus: das ist die Darstellung einer allgegen-
wärtigen Notwendigkeit, das ist das Verfahren, im kleinsten Punkt ein Ganzes zu
sammeln.«

Wir stehen am Ende: die beiden letzten Abschnitte über »Technik« und »Be-
ziehungen« bringen keine allgemeineren ästhetischen Gedanken mehr. Um dem
Vorwurf der Voreingenommenheit zu begegnen, wurde der Schefflersche Gedanken-
gang ausführlich und möglichst mit den Worten des Verfassers wiedergegeben;
scheint mir doch außerhalb dieser Formulierung der Inhalt des Gesagten kein lebens-
volles Dasein mehr zu führen.

Scheffler ist einer gerade unter den Kunstschriftstellern heute weitverbreiteten
Sucht nach »Tiefe« um jeden Preis unterlegen. Es ist ein durchaus sentimentaler
und schwächlicher Zug, der diese Philosophie der Kunst eingegeben hat. Referent
muß gestehen, daß er der Theorie des Impressionismus als der künstlerischen Dar-
stellung der leidenden Natur nicht das geringste Verständnis entgegenbringen kann,
am allerwenigsten, wenn sie am Beispiel Max Liebermanns bewiesen werden soll.
Zu welchen Geschmacklosigkeiten die gesucht geistreiche und »philosophische«
Sprache Schefflers sich verführen läßt, dafür zwei Beispiele: »Er hatte in seinen
Gänserupferinnen nicht die gewaltigen Leute der inneren Wirklichkeit, die ungeheure
Atmosphäre, worin alles Lebendige schwimmt, wie eine Vision, geben können; aber
er ahnte die Möglichkeit dazu in seiner wirklichkeitshungrigen Seele«; und: »es ist
die Moral des Leidens, die Religion des tiefen Erschreckens vor der Welt und
der Furcht vor der Formgewalt der Lebensemanationen, in ihren niedersten Er-
scheinungen noch, was die Künstler für die seltsame, leidvolle Monumentalität prä-
destiniert.«

Um die Theorie des Impressionismus ist man seit zwanzig Jahren von den ver-
schiedensten Seiten, mit den verschiedensten Mitteln und dem verschiedensten Er-
folge bemüht. Als eine rein technische Richtung, eine besondere Art zu malen, ist
diese Bewegung sicher nicht erschöpfend gekennzeichnet; darin stimmen wir
Scheffler vollkommen zu; ob es aber deshalb nötig ist, eine eigene Metaphysik zu
erfinden, die den Erklärungsgrund für die Erscheinung solcher künstlerischer Be-
strebungen hergeben soll, erscheint mir fraglich.

Unter Impressionismus in der Malerei verstehen wir zuerst einmal die Bevor-
zugung der unmittelbaren optischen Wahrnehmung als Darstellungsmaterial vor der
im Gedächtnis verarbeiteten Wahrnehmung, also vor der Gesichtsvorstellung. Vom
Augenerlebnis, von der Impression empfängt der impressionistische Künstler das
Gesetz seines Schaffens, nicht von seiner Erfahrung um das Darstellungsobjekt. So
wird der willkürliche, zufällige Ausschnitt aus der Natur gewählt statt der kompo-
nierten, d. h. in der Vorstellung umgewandelten Ansicht. Das nach Stoff und Form
Beziehungslose, die ungewerteten Elemente der Wirklichkeit treten an Stelle der
gewerteten, in einen Zusammenhang sinnvoller und dauernder Art eingestellten. So
steigt das Überraschende und Zufällige im Wert gegenüber dem Vorbereiteten, dem
notwendig mit einem Vorher und Nachher Verketteten. Ein ausgeprägter Mangel
an Gestaltungsenergie im produktiven Verhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit und
ein ebenso starker Mangel an Gedächtnis, an psychischer Verarbeitungstendenz
und -fähigkeit im reproduktiven Verhalten des Betrachtenden kennzeichnet den
impressionistischen Habitus. Nicht mehr die Einheit der Wirkungsform, die ein
bewußter und selbstherrlicher künstlerischer Läuterungsprozeß aus der Daseinsform
 
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