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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Schmarsow, August: Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0474
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470 AUGUST SCHMARSOW.

kennzeichnet sich »eine weiter entwickelte, höher differenzierte Form
der Tätigkeit«. Indessen, solche Willensantriebe zur Wahrnehmbar-
machung haben doch schon in allen Gebilden der Sprache nicht minder
gewaltet und sind bereits in allen Ausdrucksbewegungen wirksam, die
sich als Projektion in die Außenwelt bemerklich machen, zumal da, wo
sie auf ein Echo gefaßt sind oder durch den wahrnehmbaren Wider-
hall gesteigert werden. Nur die Flüchtigkeit des Mienenspiels, die
fließende Wandelbarkeit der Gebärde und das schnelle Verhallen des
Lautes lassen das Objekt der Wahrnehmung wie eine minder greifbare
Verwirklichung erscheinen als die sichtbar dastehenden, vielleicht gar
tastbar verkörperten Werke der bildenden Kunst. Nur nachhaltiger und
ausdauernder wäre der Willensantrieb zu nennen, und damit ein höherer
Grad bewußter Verteilung der Energie als bei den plötzlichen Erup-
tionen des Affekts anzuerkennen. Auch die künstlerische Betätigung
in diesem engeren Sinne, als Hervorbringung wirklicher Objekte von
dauerhafterem Bestände, beginnt jedoch mit der Ausdrucksbewegung.
Auch sie ist zunächst ein Kind des Augenblicks wie die Mimik, die
Musik und deren höhere Vereinigung in der Sprache, der Poesie, zu
der wir Mythus und Religion doch einfach hinzurechnen müssen, sowie
sie sprachliche Form gewinnen. Der Unterschied der bildenden Künste
liegt nur in dem derberen Stoff oder der Quantität der Materie, die
sie zur Verwirklichung brauchen (5Xt] ^i^-qaeux;), und in dieser sinn-
lichen Substanz wachsen sich ihre Gebilde zu konkreteren Dingen
aus, ja sie erwachsen oft erst aus der Berührung mit solchem Material
oder erfahren an der Hand der Herstellungsmittel die wundersamsten
Verwandlungen. Oft sind es erdgeborene Kinder, die man der Phantasie
in die Schuhe schiebt; oft hat der Proteus Menschengeist erzeugt, was
man, mit naturwissenschaftlichen Augen angesehen, als gesetzmäßiges
Ergebnis des Stoffes oder gar als Spiel des Zufalls zu erklären liebt.

Für die psychologische Betrachtung bietet die bildende Kunst jeden-
falls den eminenten Vorzug, daß sie durch jenen »Übergang der ästhe-
tischen Apperzeption in die aktive Form des künstlerischen Wollens«
die Produkte der Ausdrucksbewegungen objektiviert, so daß hier »die
zerflatternden losen Gebilde« des subjektiven Gebarens »in eine gesetz-
mäßig geregelte Ordnung treten und in ihrer Aufeinanderfolge eine
Entwickelungsreihe bilden, in der jene unberechenbaren Zufälligkeiten,
denen die subjektiven Bewußtseinsvorgänge unterworfen sind, zurück-
treten, um den allgemein gültigen Zusammenhängen das Feld zu räumen«.

1. Für die Erkenntnis dieser Zusammenhänge bieten nun die Werke
der »Zierkunst« ein besonders günstiges Material der Beobachtung,
teils weil uns die verschiedenen Stadien ihrer Entwickelung verhältnis-
mäßig am vollständigsten erhalten sind, teils weil die Entwickelung
 
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