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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0592
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588 BESPRECHUNGEN.

Annahme entgegen, daß die Richtung des Wachstums eines Kindes stets eine ererbte
sei, vielmehr sei der Gebrauch, die Funktion eines Organs für seine Ausbildung
oder Verkümmerung verantwortlich. So kommt er zu dem Lehrsatz: Die Funktion
erst formt das Organ, die Betätigung schafft den Gliedmaßen die entsprechende Ge-
stalt. Steht man auch grundsätzlich ganz und gar auf dem Boden des Verfassers,
so kann man doch einzelne seiner Lehren nicht unbedingt gelten lassen. Nach
meinen Beobachtungen sind z. B. kleine zarte Hände durchaus nicht immer (worauf
er mit so besonderem Nachdruck hinweist) »das Ergebnis einer durch müßiges,
unnützes Dasein erzeugten Überfeinerung und Muskelschwäche«, und wenn er »die
lange schmale Form der Hand charakteristisch für die Hand des Affen« findet, so
scheint mir eine derartige Abfertigung recht billig. Meine Erfahrungen haben mich
eines anderen belehrt: mir sind vielfach Frauen begegnet, die ihre Hände von
frühester Jugend an durch körperliche Betätigung stark in Anspruch nehmen mußten,
die aus einem schwer arbeitenden Milieu heraus geboren waren, und die dennoch
recht zarte, feine, schlanke Hände ihr eigen nannten. Meine Überzeugung geht
dahin, daß Seele und Geist, wie auf den ganzen Körper, auch bedeutenden Einfluß
auf die Bildung der Handform haben, ja, mir bietet diese das Mittel zum Rückschluß
auf jene beiden. Daß »die körperlichen Bewegungen stets mitbestimmend für die
schöne, harmonische Entwickelung des Menschen, und daß Spiele im Freien, im
Sinne unserer alten deutschen Turn- und Kampfspiele, die besten Hilfsmittel dafür
seien«, wird heut wohl rückhaltlos von allen Unterrichteten zugegeben.

Wie diese Erkenntnis erziehlich verwertet werden kann und mit der Ästhetik in
Einklang zu bringen sei, versucht Karl Möller mit seinem Beitrag: »Kunst und
Leibesübung im erziehlichen Zusammenwirken« darzustellen. Mit den
Grundzügen seiner Anschauungen machte uns der Verfasser auf dem dritten Kunst-
erziehungstage in Hamburg 1905 bekannt. Möller tritt mit Nachdruck und Kraft,
wie sie unbedingte Überzeugung verleiht, für eine Körperschulung im antiken Sinne
ein, wünscht dem nackten Körper zu seinem eingeborenen Rechte zu verhelfen und
beim Turnunterricht die Ästhetik zur Grundlage zu nehmen. Dem schwedischen
Turnen für Mädchen an deutschen Schulen Eingang zu verschaffen, bemüht er sich
seit Jahren, wenngleich er jetzt nicht mehr, wie er, wenn ich mich nicht irre, früher
tat, es als unbedingten Ersatz an Stelle des deutschen Turnens begehrt. Möller ist
in der Fachliteratur außerordentlich belesen, er bekämpft seine Feinde energisch und
gründlich, besonders Spieß, »der vielgerühmte Turnmethodiker«, hat es ihm angetan.
Aber auch er ist nicht frei von Heroenkultus. Seine Forderung: »Wir brauchen
Lehrer, die den menschlichen Körper so kennen, daß sie, vor eine ganz unbekannte
Schülerschar gestellt, nach wenigen Minuten wissen, was sie zunächst Richtiges
und Dienliches mit diesen Schülern anfangen sollen; wir brauchen nicht solche, die
sich im ängstlichen Anlehnen an die Nummern des Lehrplanes vorwärts tasten
müssen, denn auch die gewissenhafte Befolgung solcher Bestimmungen kann den
Unterricht nicht mit dem Geiste beseelen, der der Lehrerpersönlichkeit fehlt«, kann
man nicht eindringlich und oft genug wiederholen.

Was er indessen über »Calisthenccs« sagt, so dürfte ein Mann wie Möller nicht
die Sache selbst mit dem »von Amerika importierten neuesten Reklameartikel«, wie
er es nennt, verwechseln. Wenn er die Calisthenics als »undeutsche Sache« abtun
möchte, so könnte man ihm entgegenhalten, daß seine Anregungen nach antiken
Vorbildern doch auch nicht in deutschem Wesen wurzeln. Kalisthenische Übungen
dürfen eben nicht eingepaukt werden; kalisthenische Übungen sind durchaus nicht
»Ordnungsübungen mit Musik«, trotzdem die Mehrzahl der deutschen Turnlehrer-
schaft sich das einbildet und das behauptet. Fast ausnahmslos antwortete man
 
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