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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Souriau, Étienne: Die Hauptrichtungen der gegenwärtigen französischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0086
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ETIENNE SOURIAU

nur einen letzten27) Variationskoeffizienten von geringer Bedeutung,
nämlich nur jene letzte Umbildung, die das Kunstwerk aus dem Ganzen
der sozialen Umwelt erfährt, nachdem es vielleicht in seinem Wesen schon
unabhängig von diesem Faktor bestimmt ist. Lab betont aber gerade, es
handle sich hier um ein Ganzes von Bedingtheiten, ohne die das Kunst-
werk in seinem Wesen unerklärlich wäre. Das kollektive Leben, so
bemerkt er, auferlegt dem ästhetischen Denken eine Menge anästhetischer
Bedingungen, deren höhere Synthese dieses Denken in der Kunst voll-
zieht-8). Die Kunst ist ein Spiel (diese Lehre Spencers ist ein altes
Dogma der soziologischen Schule); aber sie ist ein soziales Spiel, das
„je nach dem erreichten Punkt der Entwicklung verschiedenen ernst-
haften Tätigkeiten entsprechen kann". Diese Entsprechung ist zumeist
eine Entsprechung durch Entgegensetzung und Kontrast, wie etwa im
Verhältnis der Kunst zum geschlechtlichen Leben. „Une foule de nuances
de Perotisme esthetique ne s'expliquent reellement que par une action
lente et profonde des conditions sociales" (La beaute et l'insfinct sexuel,
S. 166). Aber in dem gegenwärtigen Entwicklungszustand unserer Kul-
turgesellschaft gelangt die Kunst zur Abhebung und zu sich selber nur
in der Entgegensetzung zu den „gesellschaftlichen Formen des erotischen
Lebens". Daher ihre Entwicklung „en marge de la vie de famille, dont
il (seil, l'art) est Pirregulier" (ebda. S. 171). Allgemein gesehen (und
darin liegt ein Einspruch gegen die alte Lehre von Taine), muß die
Kunst weit eher als eine Reaktion gegen die soziale Verfassung, und
nicht als ein Erzeugnis aus ihr erklärt werden. Aus all diesem leitet
sich ein Immoralismus der Kunst her. Das hiermit aufgestandene Pro-
blem löst Lalo durch die Empfehlung eines Mittelweges „(entre) le sur-
menage du travail moral et le gaspillage du jeu artistique" (ebda. S. 177).
So erhält die Kunst auch im Bereiche der rein sittlichen Existenz ihre
Stellung als eine Kraft, die die Totalität des Lebens in Harmonie wieder-
herstellt (L'art et la morale, S. 162 ff.). Lalo ordnet die Kunst funktional
ein in das soziale Leben als eine „diseipline sociale du luxe""").

27) Lalo versucht vor allem das Gesetz dieser Variation zu erfassen (damit im
Geist und in den Folgerungen sich Deonna annähernd): es handelt sich um das
Gesetz der drei ästhetischen Zustände; darin geht er einerseits aus von Hegel,
unterscheidet sich aber doch wieder von ihm durch die Vorstellung der Periodizität
und kreisförmigen Wiederkehr dieser notwendigen Stadien.

-s) Von diesem Standpunkt aus gesehen gibt das Werk von Lalo: L'art et la
vie sociale den reinsten Eindruck seiner Methode; nacheinander untersucht er darin
die Beziehungen der Kunst mit Erscheinungen wie der Religion, den politischen
Institutionen, dem Krieg, der Familie, den Berufen, dem Luxus, den sozialen
Klassen usf.

2B) In seinem letzten Werke entfernt sich Lalo ein wenig von seiner Haupt-
methode. Er sucht die Kunst wie folgt zu bestimmen, eine Bestimmung, bei der der
 
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