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JOHANNES KLEIN
tung und bestimmt deren Gehalt, Sprache, Aufbau, oft bis in kleine
Einzelheiten hinein. Das Leben geht in Fülle als Erlebnis in den Dich-
ter ein und wird unter Aufgebot seiner lebendigen Gegenkraft zu einem
konzentrierten Bilde gestaltet. Der Dichter hat in der urtümlichen Hin-
gabe ans Leben im unmittelbaren Bezirk der Dinge gestanden. Außer
dieser unmittelbaren Beziehung hat sein Werk keine entscheidende mehr.
Es entsteht aus den Grundkräften, die überall walten, aus den Grund-
haltungen des Menschen und aus den Dingen im Kern. Die Urmotivie-
rung ist elementar, weil sie aus den elementaren Kräften und Leiden-
i schaffen des Lebens entstanden ist.
Die Sekundärmotivierung hat es immer mit Dingen zwei-
ten Ranges zu tun. Das Kunstwerk steht nicht als Mikrokosmos in
unmittelbarer Beziehung zum Leben, sondern in Beziehung zu ab-
geleiteten Erscheinungsformen des Lebens, die sehr oft eine
große zeitliche Bedeutung haben und immer noch Kunstwerke von hohem
Rang hervorbringen können. Nur ist es nicht ein höchster Wert, nur
ist er zeitlich begrenzt.
Ein Urmotiv, nämlich eine elementare Lebenskraft und eine Ur-Er-
scheinung, ist die Liebe. Ein Sekundärmotiv, nämlich eine ständisch und
sozial gebundene Erscheinungsform, ist die Ehe. Eine Darstellung, wie
zwei Menschen innerlich aufeinander zuwachsen, wäre urmotivisch. Eine
Darstellung, die auf die glückliche Gründung eines Haus-Standes hin-
zielte, wäre sekundärmotivisch. — Wie Ehe-Probleme als reine Liebes-
Probleme dennoch urmotivisch sein können, beweisen die Romane der
Sigrid Undset. — Ein Urmotiv ist die innerliche Treue und Wahrheit
von Liebenden zueinander. Ein Sekundärmotiv ist die bürgerliche Zucht
und Ehrbarkeit. — Urmotivisch ist die Lehre, die das Leben gibt, ist die
Entwicklung zur Lebens-Erfahrung. Sekundärmotivisch ist alle Didak-
tik, die bestimmte Sätze der Lebens-Erfahrung aller Zeiten oder auch
einer besonderen Zeit zum Leitprinzip einer Dichtung macht, statt sie
aus dem Erleben zu entwickeln. So ist z. B. der „Grüne Heinrich" ur-
motivisch gebaut, während die Rahmenhandlung der „Züricher Novel-
len" durch ihren didaktischen Grundzug sekundärmotivisch ist.
Es handelt sich nicht schlechthin um das Verhältnis des Urbildes zum
Ab-Bild. Man wird empfinden, daß die Fragestellung hier eine ganz
andere ist; denn sie ist nicht metaphysisch. Es handelt sich auch nicht
um das Verhältnis von Ur-Erlebnis und Bildungs-Erlebnis, weil ein Bil-
dungs-Erlebnis genau so von Urmotiven bestimmt sein kann wie ein Ur-
Erlebnis. Die Geschichte z. B. bietet eine unermeßliche Fülle von Ur-
motiven.
Die Urmotivierung ist unter allen Umständen eine lebendige und ins
Sinnliche umgesetzte Darstellung, weil auch das Leben sich als sinnlich
JOHANNES KLEIN
tung und bestimmt deren Gehalt, Sprache, Aufbau, oft bis in kleine
Einzelheiten hinein. Das Leben geht in Fülle als Erlebnis in den Dich-
ter ein und wird unter Aufgebot seiner lebendigen Gegenkraft zu einem
konzentrierten Bilde gestaltet. Der Dichter hat in der urtümlichen Hin-
gabe ans Leben im unmittelbaren Bezirk der Dinge gestanden. Außer
dieser unmittelbaren Beziehung hat sein Werk keine entscheidende mehr.
Es entsteht aus den Grundkräften, die überall walten, aus den Grund-
haltungen des Menschen und aus den Dingen im Kern. Die Urmotivie-
rung ist elementar, weil sie aus den elementaren Kräften und Leiden-
i schaffen des Lebens entstanden ist.
Die Sekundärmotivierung hat es immer mit Dingen zwei-
ten Ranges zu tun. Das Kunstwerk steht nicht als Mikrokosmos in
unmittelbarer Beziehung zum Leben, sondern in Beziehung zu ab-
geleiteten Erscheinungsformen des Lebens, die sehr oft eine
große zeitliche Bedeutung haben und immer noch Kunstwerke von hohem
Rang hervorbringen können. Nur ist es nicht ein höchster Wert, nur
ist er zeitlich begrenzt.
Ein Urmotiv, nämlich eine elementare Lebenskraft und eine Ur-Er-
scheinung, ist die Liebe. Ein Sekundärmotiv, nämlich eine ständisch und
sozial gebundene Erscheinungsform, ist die Ehe. Eine Darstellung, wie
zwei Menschen innerlich aufeinander zuwachsen, wäre urmotivisch. Eine
Darstellung, die auf die glückliche Gründung eines Haus-Standes hin-
zielte, wäre sekundärmotivisch. — Wie Ehe-Probleme als reine Liebes-
Probleme dennoch urmotivisch sein können, beweisen die Romane der
Sigrid Undset. — Ein Urmotiv ist die innerliche Treue und Wahrheit
von Liebenden zueinander. Ein Sekundärmotiv ist die bürgerliche Zucht
und Ehrbarkeit. — Urmotivisch ist die Lehre, die das Leben gibt, ist die
Entwicklung zur Lebens-Erfahrung. Sekundärmotivisch ist alle Didak-
tik, die bestimmte Sätze der Lebens-Erfahrung aller Zeiten oder auch
einer besonderen Zeit zum Leitprinzip einer Dichtung macht, statt sie
aus dem Erleben zu entwickeln. So ist z. B. der „Grüne Heinrich" ur-
motivisch gebaut, während die Rahmenhandlung der „Züricher Novel-
len" durch ihren didaktischen Grundzug sekundärmotivisch ist.
Es handelt sich nicht schlechthin um das Verhältnis des Urbildes zum
Ab-Bild. Man wird empfinden, daß die Fragestellung hier eine ganz
andere ist; denn sie ist nicht metaphysisch. Es handelt sich auch nicht
um das Verhältnis von Ur-Erlebnis und Bildungs-Erlebnis, weil ein Bil-
dungs-Erlebnis genau so von Urmotiven bestimmt sein kann wie ein Ur-
Erlebnis. Die Geschichte z. B. bietet eine unermeßliche Fülle von Ur-
motiven.
Die Urmotivierung ist unter allen Umständen eine lebendige und ins
Sinnliche umgesetzte Darstellung, weil auch das Leben sich als sinnlich