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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0206
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BESPRECHUNGEN

Auch in dem Buch „Der junge Dilthey", in diesen Briefen und Aufzeichnungen
des Werdenden, nimmt die Kunst einen breiten Raum ein. Mehrfach wird vom
Theater gesprochen. Am 22. November 1853 berichtet Dilthey seinem Vater über
eine Aufführung des „Othello" und bemerkt: „Die beste Rolle Dessoirs. Er ist
unstreitig der größte Othello Deutschlands, überhaupt durch und durch Genie
und künstlerisch ausgebildet." Rückblickend schreibt er im Sommer 1860: „Mit
welcher Andacht saß ich damals im Schauspielhaus, analysierte Charaktere Shake-
spearescher Stücke und Dessoirs Auffassung." Näher geht er auf musikalische
Eindrücke ein, indem er sie etwa so schildert wie wir es von Kretzschmar her
gewöhnt sind; die Verwandtschaft der Musik mit der Religion ist von ihm früh
gesehen worden. Diese lebendige Anteilnahme an der Kunst in allen ihren Er-
streckungen war auch später nicht entschwunden: als ich Dilthey 1886 kennen
lernte, war er begierig zu erfahren, was uns Junge erfüllte, und so blieb es
zwei Jahrzehnte hindurch. Eigentlich erst 1857 ist die philosophische Neigung
ganz durchgebrochen; 1861 schreibt er, der Schwerpunkt seines Wesens liege in
der Verknüpfung des Philosophischen und des Historischen. Wie das alles zu-
sammenklingt, zeigen folgende Sätze: „Es gibt eine der Geschichte der Welt-
anschauung eigentümliche philologische Methode, welche in Sammlung der Be-
griffe, Voraussetzungen, Gedankenfolgen, Schematen usw. beruht... Wie eine Melodie
aus einer oder mehreren ursprünglichen Tonbewegungen besteht, wie ein Kristall
aus einer oder mehreren Weisen der Stoffverknüpfung, so ein System. In den
Hauptweltanschauungen ist das Schema, was das Gesetz in der Formation der
Körper (etwa für die Pflanze die Zellenbildung), was die zu Grunde liegende
musikalische Idee für die Melodie." (S. 89.)

Den größten Reiz des Buches bildet das rein Persönliche. Nachdenkliche Be-
merkungen ranken sich um kleine und große Erlebnisse; vom Anblick der ersten
Frühlingsblumen im Berliner Tiergarten bis zu den politischen Ereignissen der
Zeit. Wir empfangen anschauliche Bilder aus dem Universitätsleben in Berlin,
Basel und Kiel. Manche Notiz beleuchtet die Verhältnisse stärker als lange Aus-
führungen es vermöchten. So schreibt Dilthey 1868 aus Berlin von der überreichen
Arbeit und den zahllosen Bekannten: „Der Briefbote, welcher jeden Morgen 3—4
Briefe brachte, meinte schließlich, bei mir sei wohl jeden Tag Geburtstag." Persön-
lichkeiten werden geschildert, die auch mir noch begegnet sind: Joseph Joachim,
Adolf Glaser, Steinthal und Lazarus. Engste Freundschaft verband Dilthey mit
Lazarus und dessen Frau. „Wie schwer wird mir doch der Gedanke, ihn zu ent-
behren. So viel Tiefe, Feinheit, herzliche Gemütlichkeit kann mir kein andrer
Verkehr ersetzen. Was ich etwa geistig werde, dazu verdanke ich ihm den größten
Teil der Anregung. Seine Frau aber wird mir wohl immer Typus der feinsten
geselligen Anmut in kleinem Kreise sein, der ich je bei einer Frau zu begegnen
das Glück hatte." Übrigens sah Dilthey auch bei dieser offenbar hochbegabten und
anziehenden jüdischen Frau die „Zutat, welche die Verhältnisse fast in allen
Fällen in die ursprünglichen Anlagen mischen. Eine innere Bitterkeit über die
Zurücksetzung ihrer Nation läßt sie alle Verhältnisse leicht in diesem Sinne be-
trachten und verschieben..." (Vgl. S. 126 die Würdigung Steinthals und die sich
anschließenden Bemerkungen, ferner S. 164 die Sätze über Rahel.)

Was Dilthey über sich selber sagt, teils beiläufig, teils bekenntnismäßig, ergibt
ein festumrissenes Bild. Schon in frühen Jahren hat er unter Schwermut gelitten,
oft bis zum Lebensüberdruß. Aber die Arbeit hat ihn immer wieder in die Höhe
gebracht: „Ihr habt doch keine Idee, was für eine Lebensfreude in Forschung,
Schreiben, Reden steckt!" (1867). Nur wenige unter seinen Studenten und selbst
unter seinen Kollegen wußten, daß er wirklich Tag und Nacht sich in die Arbeit
 
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