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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Cysarz, Herbert: Menscheit, Volk, Dichtung: Betrachtungen zum Schrifttum des jüngsten Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0240
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HERBERT CYSARZ

und zuversichtlicher, nicht mehr angstvoll hinausgeschleudert in den un-
endlichen Raum, sondern der Ewigkeit verbunden durch eine Garbe
leibhaften Lebens von Geschlecht zu Geschlecht. Mancher wird unver-
sehens schöpferischer Geheimnisse kundig, wie Frauen die ein Kind
tragen. Jeder nimmt unvermerkt Prägung und Stil an. Er schafft be-
reits, indem er spricht, an einem namenlosen Kunstwerk aller für alle,
eben der Sprache mit. Er schafft und wird geschaffen, nicht mehr Atom
der ungestalten Masse, sondern Sinn vom Sinn des Lebens überhaupt.

Auch das verträgt sich noch mit wahrem Europäertum; mit jenem
„guten" Europäertum, das die Menschheit im Inbegriff der schöpferi-
schen Mächte aus jederlei Erde und Blut sucht, nicht jenem schlechten
Europäertum, das zwischen den Völkern, den Ständen, den schaffenden
Einzelnen im Trüben fischt. Auch die menschlichen Sprachen bilden
übergreifende Sippen, innerhalb deren verwandte Strukturen, verwandte
Stile herrschen. Noch kein Monomane der Rasse hat die Grenzen der
abendländischen Rassen den Völker-Grenzen gleichgesetzt. Und daß
das radikale Das-bin-ich ein ebenso vorbehaltloses Das-bist-<du erheischt,
wird zumindest grundsätzlich nirgends geleugnet.

Woher also das Entweder-oder zwischen Volk und Menschheit? ...
Es ergibt sich zuallernächst da, wo gemeinsames Handeln nottut. Der
heutige Gegensatz ist ein zuvörderst politischer Zwiespalt — im weite-
sten Sinn des Begriffs Politik: Umwertung aller Werte im Hinblick auf
ein gemeinsames Handeln, Handeln-wollen und Handeln-müssen.

Der Zustand des allumfassenden „Nichts Menschliches ist mir fremd"
bleibt unfruchtbar in Bezug auf die Tat. Gerechtigkeit ist im weitesten
Maß handlungsunfähig — schon hierin liegt, nach allen wahren Histo-
rikern unter den Sehern der Menschheit, die Tragizität der Geschichte.
„Die Guten nämlich — also spricht Zarathustra — die können nicht
schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende." Der Handelnde, nach
einem Goethe-Wort, ist immer ungerecht. Freilich darf diese Ungerech-
tigkeit nicht schlechtweg alles Recht, alle Vernunft und Wahrheit aus-
löschen. Die Ungerechtigkeit darf nicht vorweg gewußt und gewollt
sein. Die Ungerechtigkeit der schöpferischen Tat ist tragisch, nicht aber
zynisch (nur tragisch ungerecht ist alle Politik des Lebens, zynisch un-
gerecht die Politik um der Politik willen).

Die Menschheit ist also nicht Fetisch oder Fiktion. Sie ist der leben-
digste Inhalt, zumindest Gefühlsinhalt, einer Rechts- und Sittlichkeits-
ordnung, der Ströme Opferbluts geflossen sind. Aber dem Ideal gebricht
es, zumindest angesichts der herrschenden Interessen-Zwiste, an Hand-
lungsfähigkeit, auch an Handlungsbereitschaft. Die 1919 im Namen der
Menschheit versammelte Macht, die stärkste Erdenmacht, die vielleicht
je an einem Punkt vereinigt war, in welchem Maß hat sie der Mensch-
 
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