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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Petsch, Robert: Was heißt: "Allgemeine Literaturwissenschaft"? : einführende Bemerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0274
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BEMERKUNGEN

der Mensch zu „reden" weiß. Wie die Rede sinnlich und geistig zugleich ist und
damit die Totalität des Menschen (als Gliedes einer Sprachgemeinschaft) am reinsten
spiegelt, so strebt die Wortkunst immer dahin, wo sich hohe geistige Werte der „Mei-
nung" in der Anschauung offenbaren. In allen diesen Wertungen wird sich also der
Mensch nicht nur der gegenständlichen Inhalts-Werte, sondern auch seiner eigenen
menschlich-wertenden, d. h. Geistiges im Sinnlichen empfindenden Fähigkeit bewußt.
Alle jene Werte gehen in die Dichtung ein, insofern sie jenen tiefen menschlichen —
und das bedeutet immer zugleich volkhaften — Beiklang haben. So wird in den
beiden Versen Raimunds nicht bloß eine wehmütige Lebenserfahrung „nachträglich"
in Verse gegossen. Worauf es hier ankommt und was uns (bei aller Schwermütig-
keit) unendlich beglückt, ist die besondere, die menschlich-vielseitige Auffassung
der Tatsache, die sich nur in diesen Versen ausdrücken läßt. Nur als „Menschen"
im betonten Sinne des Wortes können wir das Schöne, das Vergänglich-Große in
ganz besonderer Kraft und Stärke empfinden in dem Augenblick des Untergangs;
als poetische Menschen greifen wir fast instinktiv nach einem „Symbol", das uns an
sich schon herrlich und ehrwürdig erscheint, wie die leuchtende Sonne, deren Ver-
gänglichkeit uns allen eine sichere Erfahrung ist, die wir auch schon alle bedauert
haben*). Alle diese Erfahrungen schließen sich jetzt zusammen (im Hinblick auf
die scheidende Jugend) und lassen uns etwas ahnen von unserer menschlichen
Kraft, das Schmerzliche zu überwinden durch die höchste Anerkennung des Großen,
uns über den „pathologischen" Eindruck der „Natur" zu erheben durch geistige
Selbständigkeit. Die „menschliche" Auswirkung hat unendliche Möglichkeiten, und
wir werden uns der Tiefen unserer eigenen Brust nirgends so stark und so allge-
mein bewußt als in der Dichtung.

Alle diese „menschlichen Werte" nun werden in der Dichtung nicht eigentlich
„gesagt" (wie z. B. in der Rhetorik), aber sie wirken nur um so reiner und mäch-
tiger durch den Zauber der sprachlichen Form. Der Aufbau des Werkes im Großen
wie im Kleinen und die gesamte Stilgebung verraten dauernd dieses Wunder; alle
Dichterei steht nur im Dienste einer geheimen Magie. Unsere Verse zwingen uns
durch ihre Geschlossenheit und ihren reinen Klangcharakter, gleichsam eine Atem-
pause zu machen und mit besonderer Stimmlage, etwas verhalten und bedeutungs-
voll, mit bewundernder Hingabe, mit wehmütigem Lächeln und mit tiefem Ernst
zugleich, mit scharfer und doch nicht schneidender Bedeutung, klingend und doch
nicht leiernd die tiefe und doch kindliche Weisheit des Dichters anzusprechen. Das
ist Dichtung, und wer die Form so zu meistern weiß, ist ein Genie. Und die Auf-
gabe der Literaturwissenschaft ist es, diese verborgenen Wege zwischen dichte-
rischer Schau und Auffassung, Aufbau und Stil immer wieder zu beschreiben, um
das Einzelne aus dem Allgemeinen, die Erscheinung aus dem Wesen zu erklären.

So führt die neue Literaturwissenschaft zugleich in die „verborgensten Gänge
unseres Geistes" (nach Herder) ein und offenbart sich als nationale Wissenschaft,
je mehr sie ihre allgemeineren Einsichten und Vermutungen an den gegebenen und
ihr vertrautesten Stoffen der deutschen Dichtung — auch der gegenwärtigen Dich-
tung — bereinigt und vertieft*).

*) Mit noch tieferer Symbolik, aber minder schlicht ruft Karl Moor („Die
Räuber", 3. Akt, 2. Szene) der sinkenden Sonne zu:_ „So stirbt ein Held" — in einem
Augenblick, wo ihn schon die Schwingen des tragischen Schicksals umrauschen.

*) Vgl. meine Leitsätze über: 1. „Wesen und Bedeutung der Dichtung" in den
„Forschungen und Fortschritten", 1933 (über die „dichterischen Werte"). 2. „Stil
in Sprache und Dichtung", in den „Mitteilungen" der „Deutschen Akademie" zu
München, 1933. 3. „Gattung, Art und Typus", in den „Forschungen und Fortschrit-
ten", 1934, Nr. 7.
 
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