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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Del-Negro, Walter: Synthesen der abendländischen Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0381
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SYNTHESEN DER ABENDLAND. KUNSTGESCHICHTE 367

Geometrisierung, ornamental behandelte Falten in linearem Stil). In
Vezelay (1130), Charlieu (1150?), St. Pierre bei Moissac (1130?) stellt
sich eine expressionistische Erregung ein, die die Falten in quirlende Be-
wegung versetzt und zu abenteuerlichen Gliederverrenkungen Anlaß gibt,
sodaß die manieristische Phase der Archaik ebenfalls vertreten erscheint.
Der reifarchaische Stil tritt uns in Chartres West (1140) entgegen.
Zu Unrecht vergleicht Hamann die dortigen Säulenheiligen mit der
früharchaischen Hera von Samos; die Säulenhaftigkeit der Chartreser
Gestalten erklärt sich nur aus ihrer baulichen Funktion, ist also von
außen her an die Plastik herangetragen. Das sieht man sofort, wenn
man jene Gestalten der Westportale betrachtet, die nicht Säulenersatz
sein sollen, wie vor allem den Christus im Tympanon des Mittelportals.
Ein Vergleich mit den früher erwähnten Christusgestalten zeigt auf den
ersten Blick, daß hier dieselbe Stilphase erreicht ist, die in Griechen-
land etwa die späteren Akropoliskoren oder die Berliner Göttin repräsen-
tieren. Bis in Einzelheiten der Gewand- und Haarbehandlung läßt sich
diese Analogie verfolgen.

Der Schritt von Chartres West zu den Querschiffportalen (Anf. 13.
Jh.) bedeutet sodann nichts anderes als den Übergang von der reifen
Archaik zur Frühklassik. Die strenge Gebundenheit, die gleich unsicht-
baren Fesseln über allen archaischen Figuren liegt, ist gewichen, die
organische Form hat über die Geometrie gesiegt. Aber noch steckt ihr
das Alte in den Gliedern, noch ist sie von der herben Größe und Monu-
mentalität erfüllt, die auch die griechische Frühklassik kennzeichnet. Der
Faltenstil hat die alte Flächigkeit noch nicht abgestreift.

Zur Frühklassik gehört auch die Reimser Visitatiogruppe (1225?).
Ihre malerisch reiche Faltenbehandlung allerdings scheint hiezu gar
nicht zu passen und wenn man bedenkt, daß der spätere Reimser Stil
in der Faltengebung viel einfacher und großliniger wird, so liegt hier —
gerade auch im Vergleich mit der antiken Entwicklung — ein Anachronis-
mus vor.

Aber hier ist nachweisbar einer jener Fälle gegeben, in denen die
Entfaltung der mittelalterlichen Bildhauerei aus ihrem natürlichen Ge-
leise geworfen wird, durch die Übernahme und teilweise Nachahmung
spätantiker Vorbilder. Panofsky hat gezeigt, daß die Reimser Plastik
aus der Zeit der Heimsuchung an (z. T. heute noch in Reims befindliche)
römische Muster anknüpft (wir werden noch daran erinnern müssen,
daß ganz Ähnliches sich auch in Pisa u. zw. bezeichnenderweise eben-
falls in der frühklassischen Epoche ereignet hat). Offenbar hat der Über-
gang zu gelösteren Formen das Wirksamwerden antiker Vorbilder er-
leichtert —, daß aber sp ät antike Werke (besonders klassizistische) maß-
 
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