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RUDOLF ODEBRECHT
und dient der illusionären Brillanz von Gewändern und dem Inkarnat
üppigen Fleisches. Das Barock steigert diese Tendenz teilweise zu einer
unerhörten Versklavung der Kunstmittel, die Grenzen zwischen Malerei
und Skulptur panoptikumartig verschleiernd. Berninis heilige Therese
stellt das Äußerste in dem Streben nach Stoffüberwindung und Stoffver-
deckung dar. An der im Räume schwebenden Figur der verzückten Heili-
gen erscheinen Härte und Schwere so vollkommen aufgehoben, als handle
es sich um ein experimentum crucis für die These des Zeitgenossen Des-
cartes, daß durities und pondus als entbehrliche Modi der Materie an-
zusehen seien.
Betrachtungen solcher Art können die Auffassung von der ästheti-
schen Dominanz des Materialgefüges nicht erschüttern. Wertästhetische
Untersuchungen sollen sich an der Fülle kunstgeschichtlichen Materials
erproben und zu vertiefen suchen; aber sie müssen doch darüber hinaus
zu letzten Normierungen gelangen, durch die sie nicht jeder künst-
lerischen oder kunsttheoretischen Zeitverirrung preisgegeben sind. Auch
der Kunstwille des Barock, so stark sich in ihm die Tendenz auf Täu-
schungsillusion bemerkbar macht, sinkt in seinen großen Schöpfungen
trotz aller gegenständlichen Theatralik nicht zum leeren Virtuosentum
herab. Er entbehrt nicht eines gestaltqualitativen durchwaltenden Sinn-
gefüges, wenn es auch die Eigenart seines Stilcharakters ist, dieses Ge-
füge jeder entdeckenden Begegnung zu entziehen. Stark dagegen tritt
die signifikative Selbständigkeit der rhythmischen Flächen- und Farb-
gestaltung etwa bei Giotto hervor. Pollaiolos messerscharfe Frauenprofile,
die wie eine elfenbeinerne Schnitzarbeit auf dem Lichtblau der Malfläche
ruhen, bilden mit den Farbflecken der Gewandung einzigartige Akkorde,
die sich mit unbezwinglicher Selbstmächtigkeit vordrängen. Das Gleiche
gilt von dem Furioso van Goghscher Farbexplosionen, von der Massig-
keit Barlachscher Schnitzwerke oder von der linearen Dramatik Dürer-
scher Holzschnitte. Genügt nun diese Einsicht, um die Paradoxie der
ästhetischen indistincta distinctio zur Auflösung zu bringen? Beachten
wir den Hinweisungscharakter des Gefüges, so könnte man meinen, daß
die im ästhetischen Gegenstandsproblem enthaltene Antithetik keine andre
sei, als sie dem Wesen des „Zeichens" überhaupt entspricht. In seiner hin-
weisenden Funktion besitzt das Zeichen stets Zuordnungscharakter. Es
bleibt dem Komplex von Vorstellungen gegenüber ein Zugeordnetes, also
ein Gegenüberstehendes und doch wieder Aktverbundenes. Das Sein des
Zeichens ragt also in das Sein des Vorgestellten hinein und bewahrt doch
ihm gegenüber seine Selbständigkeit. Und doch ist das Problem des „Hin-
einragens" in dem hier gemeinten Sinne nur erst teilweise in Angriff ge-
nommen. Erschöpfte sich die ganze Aufgabe des Werkgefüges lediglich
in der Funktion eines Zeichens für vorgestellte Wirklichkeit, so wäre wohl
RUDOLF ODEBRECHT
und dient der illusionären Brillanz von Gewändern und dem Inkarnat
üppigen Fleisches. Das Barock steigert diese Tendenz teilweise zu einer
unerhörten Versklavung der Kunstmittel, die Grenzen zwischen Malerei
und Skulptur panoptikumartig verschleiernd. Berninis heilige Therese
stellt das Äußerste in dem Streben nach Stoffüberwindung und Stoffver-
deckung dar. An der im Räume schwebenden Figur der verzückten Heili-
gen erscheinen Härte und Schwere so vollkommen aufgehoben, als handle
es sich um ein experimentum crucis für die These des Zeitgenossen Des-
cartes, daß durities und pondus als entbehrliche Modi der Materie an-
zusehen seien.
Betrachtungen solcher Art können die Auffassung von der ästheti-
schen Dominanz des Materialgefüges nicht erschüttern. Wertästhetische
Untersuchungen sollen sich an der Fülle kunstgeschichtlichen Materials
erproben und zu vertiefen suchen; aber sie müssen doch darüber hinaus
zu letzten Normierungen gelangen, durch die sie nicht jeder künst-
lerischen oder kunsttheoretischen Zeitverirrung preisgegeben sind. Auch
der Kunstwille des Barock, so stark sich in ihm die Tendenz auf Täu-
schungsillusion bemerkbar macht, sinkt in seinen großen Schöpfungen
trotz aller gegenständlichen Theatralik nicht zum leeren Virtuosentum
herab. Er entbehrt nicht eines gestaltqualitativen durchwaltenden Sinn-
gefüges, wenn es auch die Eigenart seines Stilcharakters ist, dieses Ge-
füge jeder entdeckenden Begegnung zu entziehen. Stark dagegen tritt
die signifikative Selbständigkeit der rhythmischen Flächen- und Farb-
gestaltung etwa bei Giotto hervor. Pollaiolos messerscharfe Frauenprofile,
die wie eine elfenbeinerne Schnitzarbeit auf dem Lichtblau der Malfläche
ruhen, bilden mit den Farbflecken der Gewandung einzigartige Akkorde,
die sich mit unbezwinglicher Selbstmächtigkeit vordrängen. Das Gleiche
gilt von dem Furioso van Goghscher Farbexplosionen, von der Massig-
keit Barlachscher Schnitzwerke oder von der linearen Dramatik Dürer-
scher Holzschnitte. Genügt nun diese Einsicht, um die Paradoxie der
ästhetischen indistincta distinctio zur Auflösung zu bringen? Beachten
wir den Hinweisungscharakter des Gefüges, so könnte man meinen, daß
die im ästhetischen Gegenstandsproblem enthaltene Antithetik keine andre
sei, als sie dem Wesen des „Zeichens" überhaupt entspricht. In seiner hin-
weisenden Funktion besitzt das Zeichen stets Zuordnungscharakter. Es
bleibt dem Komplex von Vorstellungen gegenüber ein Zugeordnetes, also
ein Gegenüberstehendes und doch wieder Aktverbundenes. Das Sein des
Zeichens ragt also in das Sein des Vorgestellten hinein und bewahrt doch
ihm gegenüber seine Selbständigkeit. Und doch ist das Problem des „Hin-
einragens" in dem hier gemeinten Sinne nur erst teilweise in Angriff ge-
nommen. Erschöpfte sich die ganze Aufgabe des Werkgefüges lediglich
in der Funktion eines Zeichens für vorgestellte Wirklichkeit, so wäre wohl