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RUDOLF ODEBRECHT
mittlung des Zeichens zu bedienen, so wäre die Dialektik des Problems
aufgehoben. Aber es ist das Schicksal der Poiesis, daß sie in dem Stadium
der absoluten Gebärdung zu einem heraklitischen öXov wird, dem die
xoLvovia offenbarender Mitteilung an den anderen fehlt. Diese in der Sache
begründete Aporie wird dem zeitlichen Werk zum Verhängnis, sofern der
Künstler stärker als wünschenswert die poietische Gebärde zurückdrängt
und seine Aufmerksamkeit demjenigen Teile von Werkganzheit zuwendet,
den er mit dem handwerklichen Zu-Ende-bringen gemeinsam hat; mit
demjenigen also, das, wie Schelling sagt, „mit Bewußtsein, Überlegung
und Reflexion ausgeübt wird, was auch gelehrt und gelernt durch Über-
legung erreicht werden kann"28).
Wenn wir schöpferischer Werkganzheit jede Tendenz auf ein Fertig-
machen absprechen, so nicht deshalb, um es dem Handwerk gegenüber
als ein Unvollkommenes, sondern um es als das absolut Andere zu kenn-
zeichnen. Nicht so ist das Nicht-zum-Ende-kommen zu verstehen, als ob
mit fehlender Richtungsbestimmtheit auf ein Ende absolute Willkür der
Gestaltung gesetzt wäre. Die Rede von „Weg und Ziel zugleich" macht
bereits offenbar, daß Gebärdung nicht erst zu einem Ende kommen muß,
sondern immerfort am Ende ist. Darin eben bekundet sich die eigenartige
Dialektik des Werkes, daß es als absolute Gebärdung immer schon da
ist und in allen Stadien bildhafter Entwicklung seine Konstanz bewahrt,
doch aber immer wieder aus der absoluten Heimlichkeit seiner Individu-
ation aufbrechen und in der Leistung eines Zeichens für ... das Wagnis
des Verstehens aaff maamv bestehen muß. Dieses absolut Poietische, das
Sinngesetz jeder Gestaltung, die stimmunghafte Konzeption, ist das Prius
jeden Schaffens, das allem Können, Vollenden und Gelingen an und für
sich gleichgültig gegenübersteht. Ein Gemälde wird nicht, indem man
eine Anzahl von Modellstudien summenhaft aneinanderstückelt, und ein
literarisches Kunstwerk wächst nicht aus einem mosaikartigen Unter-
grund von Begebenheiten zu einer idealen Einheit hervor. Nicht die Viel-
heit bildhafter Vorstellungselemente, sondern die Ganzheit des heim-
lichen Entwurfs ist der Quellgrund und das Begleitmotiv schöpferischen
Wachstums. Voll-Endung des Werkes kann deshalb nicht als ein Zur-
Ganzheit-kommen verstanden werden, als wäre alles Entwerfen auf dieses
Ende nur ein unganzes Vorspiel und der Entwurf stände an der untersten
Stelle einer Wertentwicklung. Das Dogma von der Unzulänglichkeit des
Entwurfs hat der Einsicht weichen müssen, daß im Urkeim bildnerischer
Konzeption Wertganzheit des Werkes bereits antizipiert ist; und alle
Ausführung als gliedhafte Ausgestaltung und mitteilende Auslegung, nie-
mals aber Übersteigung, Aufhöhung und Korrektur der absoluten Poiesis
28) Schellings Werke III, S. 618.
RUDOLF ODEBRECHT
mittlung des Zeichens zu bedienen, so wäre die Dialektik des Problems
aufgehoben. Aber es ist das Schicksal der Poiesis, daß sie in dem Stadium
der absoluten Gebärdung zu einem heraklitischen öXov wird, dem die
xoLvovia offenbarender Mitteilung an den anderen fehlt. Diese in der Sache
begründete Aporie wird dem zeitlichen Werk zum Verhängnis, sofern der
Künstler stärker als wünschenswert die poietische Gebärde zurückdrängt
und seine Aufmerksamkeit demjenigen Teile von Werkganzheit zuwendet,
den er mit dem handwerklichen Zu-Ende-bringen gemeinsam hat; mit
demjenigen also, das, wie Schelling sagt, „mit Bewußtsein, Überlegung
und Reflexion ausgeübt wird, was auch gelehrt und gelernt durch Über-
legung erreicht werden kann"28).
Wenn wir schöpferischer Werkganzheit jede Tendenz auf ein Fertig-
machen absprechen, so nicht deshalb, um es dem Handwerk gegenüber
als ein Unvollkommenes, sondern um es als das absolut Andere zu kenn-
zeichnen. Nicht so ist das Nicht-zum-Ende-kommen zu verstehen, als ob
mit fehlender Richtungsbestimmtheit auf ein Ende absolute Willkür der
Gestaltung gesetzt wäre. Die Rede von „Weg und Ziel zugleich" macht
bereits offenbar, daß Gebärdung nicht erst zu einem Ende kommen muß,
sondern immerfort am Ende ist. Darin eben bekundet sich die eigenartige
Dialektik des Werkes, daß es als absolute Gebärdung immer schon da
ist und in allen Stadien bildhafter Entwicklung seine Konstanz bewahrt,
doch aber immer wieder aus der absoluten Heimlichkeit seiner Individu-
ation aufbrechen und in der Leistung eines Zeichens für ... das Wagnis
des Verstehens aaff maamv bestehen muß. Dieses absolut Poietische, das
Sinngesetz jeder Gestaltung, die stimmunghafte Konzeption, ist das Prius
jeden Schaffens, das allem Können, Vollenden und Gelingen an und für
sich gleichgültig gegenübersteht. Ein Gemälde wird nicht, indem man
eine Anzahl von Modellstudien summenhaft aneinanderstückelt, und ein
literarisches Kunstwerk wächst nicht aus einem mosaikartigen Unter-
grund von Begebenheiten zu einer idealen Einheit hervor. Nicht die Viel-
heit bildhafter Vorstellungselemente, sondern die Ganzheit des heim-
lichen Entwurfs ist der Quellgrund und das Begleitmotiv schöpferischen
Wachstums. Voll-Endung des Werkes kann deshalb nicht als ein Zur-
Ganzheit-kommen verstanden werden, als wäre alles Entwerfen auf dieses
Ende nur ein unganzes Vorspiel und der Entwurf stände an der untersten
Stelle einer Wertentwicklung. Das Dogma von der Unzulänglichkeit des
Entwurfs hat der Einsicht weichen müssen, daß im Urkeim bildnerischer
Konzeption Wertganzheit des Werkes bereits antizipiert ist; und alle
Ausführung als gliedhafte Ausgestaltung und mitteilende Auslegung, nie-
mals aber Übersteigung, Aufhöhung und Korrektur der absoluten Poiesis
28) Schellings Werke III, S. 618.