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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Odebrecht, Rudolf: Werkstoff und ästhetischer Gegenstand
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0040
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RUDOLF ODEBRECHT

tivität des Werkes ankam, nur angedeutet werden. Die Seinsqualität des
Kunstwerkes zu kennzeichnen, ihr den Realitätscharakter zurückzuge-
ben, der ihr unter dem Aspekt kunsttheoretischer Piatonismen abhanden
gekommen ist, erscheint als vordringlichste Aufgabe einer Wertästhetik.
Ich schließe mich damit der für die Ästhetik lebensnotwendigen Forde-
rung an, die Dessoir auf dem vierten Kongreß für Ästhetik unter der
Parole einer „ontischen Verankerung" der Kunst aufgestellt hat32). Es
geht in der Ästhetik heute vor allem um die Frage nach der Wurzelung
aller Kunst und allen künstlerischen Schaffens im Ontischen, um seine
Einsenkung in das „Erdreich des Seins". Gewiß ist das Kunstwerk von
einer anderen Art des Seins als gemeine Dinglichkeit; gewiß stellt es in
der „Inselhaftigkeit" seines signifikativen Seins ein über das bloße Da-
Sein hinausgehendes Nicht-mehr-Wirkliches dar. Aber diese Abhebung
vom Gemeinwirklichen ist nicht Selbstzweck, wie es Abstraktions- und
Erlösungstheorien behaupten, die im Schauen des Scheins, in einem
Spiel mit Möglichkeiten oder in einer Steigerung des menschlichen
Daseinsgefühls den Sinn der Kunst erfüllt sehen. Es soll der Fülle
der Gestalten, der himmlischen Verklärtheit religiöser Visionen, dem
Zauber märchenhafter Landschaften und der Erhabenheit menschlicher
Schicksalsschilderung nicht Abbruch geschehen. Aber man suche nicht
dahinter nach den „Chiffren einer Transzendenz" im Sinne eines Über-
das-Wirkliche-hinaus. Das Kunsterlebnis ist ein Aufschwung über die
Zeitlichkeit von Existenz, ein Umweg, der, indem er sich selbst wieder
aufhebt, die existenzielle Wurzelung des Werkes offenbar werden läßt.
Auch das ist Transzendenz; tiefere sogar, als alle in den Schein
hineinphantasierte Begrifflichkeit anzudeuten vermag. Der Satz: vö de
ßäftog sxäotov f) %Xv\ gilt nicht minder vom Kunstwerk als von jedem ande-
ren Dinge. Nur mit dem Unterschied, daß die existenzielle Tiefe des stoff-
lichen Seins, das in seiner starren Unlebendigkeit als brutamateria grauen-
voll in die Alltäglichkeit des Daseins hineinragt, im Kunstwerk seine
gestaltenzeugende Seele (IwXov %al yev^uv^v ipvy^v) offenbart. Und wie
das Sein des Kunstwerkes, so ist auch das Sein des Künstlers aufs tiefste
ontisch verankert. Auch im Stadium höchster phantasiemäßiger Entrük-
kung ist doch der letzte Sinn seines Tuns nicht „Herabsetzung des Wirk-
lichkeitsgefühls", sondern begeisterte Offenbarung seines existenziellen
Selbstseins im schöpferischen Umgang mit dem Stoff. Und so erwächst
dem Nacherlebenden die doppelte Aufgabe: Das Bathos des Seins als
absolute Poiesis zur Empfängnis zu bringen und darin zugleich der
Begegnung mit der schöpferischen Seele des Künstlers teilhaftig zu
werden.

32) Bericht, Stuttg. 1931, S. 263.
 
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