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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0088
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BESPRECHUNGEN

häufigen Abwandlungen wiederkehrt, ist von Wichtigkeit. Er eröffnet den Zugang in
jene Sphäre, „in der, nach Renans Wort, alles möglich ist, sogar Gott". Insofern B.
hier über eine rein naturwissenschaftlich-positivistische Betrachtungsweise hinaus-
geht, würde er sich vielleicht selbst als zugehörig betrachten zur „reaction au profit
de l'idealisme", von der er einmal spricht und in die er „die neu-christliche Be-
wegung, den Roman Paul Bourgets, die symbolistische Dichtung, die Wagnersche
Musik, die präraphaelitische Malerei und die Erneuerung der französischen Meta-
physik" in gleicher Weise einreiht. Aber vor allem müssen wir auf B.'s früher er-
wähnte Fähigkeit der „Einfühlung" zurückgreifen, die durch seine Neigung zur
Heldenverehrung, zur Bewunderung des großen Einzelnen und seiner Leistung er-
gänzt und erklärt wird. Um die Bedeutung der „Kategorie der Individualität" zu
erweisen, stellt B. in seinem Kierkegaard-Aufsatz (1903) den Einzelmenschen Kierke-
gaards neben den Heros Carlyles, den Charakter Emersons, den Einzigen Stirners,
den Übermenschen Nietzsches. Dabei erinnert aber die Art, wie B. diese „Kategorie
der Individualität" auslegt und deutet, an jene Flucht vor der philosophischen Ver-
antwortlichkeit, die manche Denker der Jahrhundertwende, etwa auch einen Wilhelm
Dilthey, kennzeichnet. Denn diese seine Blickweise verleitet B. dazu, zwei so uner-
bittlich zur Entscheidung drängende Denker wie Kierkegaard und Renan als „Indi-
vidualisten" von der Gegenwart abzulösen, sodaß sie gewissermaßen beziehungslos
im Räume schweben. Kierkegaard wird neben dem Ibsen des „Brand" zum anschau-
lichen Vertreter skandinavischer Geistigkeit, Renans Gedanken werden in „Certi-
tudes" und unverbindliche „Reves" geschieden und damit ihrer eigentlichen Trag-
weite entkleidet. Trotz dieser letzten denkerischen Unsicherheit ist der Essay über
die „Philosophie individualiste d'Ernest Renan" wohl die bedeutendste monographi-
sche Leistung dieses Buches. Renan wird in seinem umfassenden Streben nach ge-
schichtlichem Begreifen mit Herder verglichen. Ausgezeichnet wird dann der sich
stets gleich bleibende aristokratische Grundzug seines Wesens hervorgehoben.
„Quand vous rencontrez un noble, vous le saluez, car il represente le roi; quand
vous rencontrez un pretre, vous le saluez, car il represente Dieu." „Les cheveux ont
repousse sur ma tete, mais je fais toujours partie de la sainte milice des desherites
de la terre. Je ne me tiendrai pour apostat que le jour oü les interets usurperaient
dans mon äme la place des choses saintes ..." Es wäre leicht, von hier Verbindungs-
linien zu Gide und zu Valery zu ziehen. Wir übergehen die Frage des „dilettan-
tisme" und wenden uns sogleich dem eigentlichen Kernstück von B.'s Aufsatz zu,
der „politischen Philosophie". B. kann mit vollem Recht Renan mit Nietzsche ver-
gleichen. Von der französischen Revolution und der Verherrlichung ihrer Ideen
nimmt Renan seinen Ausgangspunkt; aber frühe schon dämmert ihm die Erkenntnis,
daß das Ziel der Geschichte nicht die fortschreitende Verwirklichung der mensch-
lichen Gleichheit sein kann; ja die menschliche Ungleichheit wird ihm geradezu zur
Voraussetzung alles geschichtlichen Lebens. Er bewundert sogar „ces abus pittores-
ques de la nature", die einen Teil der Menschen aufopfern oder ins Elend stürzen,
um einer auserwählten Minderheit höchste Lebensentfaltung zu ermöglichen: so ruhte
die griechische Kultur auf der Sklaverei, so die Renaissance auf einem schreck-
lichen blutigen Hintergrund. Er verlangt vom politischen Handeln nicht in erster
Linie Güte, sondern Größe: „En face d'une action je me demande plutöt si eile
est belle ou laide que bonne ou mauvaise, vu qu'avec la simple morale qui fait
Phonnete homme on peut mener une assez mesquine vie".Die Verschiedenartigkeit
der Rassen ist das eigentlich treibende Moment in der Geschichte; durch „selection"
ist Frankreich zu seiner Größe emporgestiegen; es weiter auf dem Wege der
Zivilisation zu erhalten und vorwärtszuführen, kann nur die Aufgabe einer aristo-
 
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