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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0093
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BESPRECHUNGEN

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Einer dieser Leitbegriffe ist der Gedanke einer Philosophie und Ästhetik der „Maß-
norm", die B. in der Lehre der Pythagoreer und im Spätwerk Piatos, vor allem in
den Nomoi, auch später noch in halb verlorenen, der Entwicklung eingesprengten
Stücken findet. „Die Begriffe Maß und Symmetrie", so heißt es an einer für B.s Stel-
lungnahme kennzeichnenden Stelle, „die ältesten und ehrwürdigsten, die die Philoso-
phie hat, sind nicht von einem formalen Denken erzeugt, sondern entstammen einem
reinen Gehaltsdenken, das wir auch ein Denken in Symbolen nennen können. Es ist
diesem Denken eigentümlich, daß es das Weltall und den Menschen einem ,Dritten'
unterstellt, das nichts Äußerliches und Fremdes gegen sie ist, sondern ihr Gemein-
sames und Wesentliches. Dieses Dritte ist das Maß, nicht als Form, sondern als Ge-
halt; nicht als abstraktes Gesetz, sondern als konkrete Seinsbestimmung" (11). Die
Schwierigkeit einer historischen Durchführung dieses Gedankens besteht darin, daß
der Kosmos- und Symmetriegedanke in der nachantiken Entwicklung überall mit
der von B. befehdeten neuplatonischen Überlieferung verquickt ist. In Plotin erkennt
ß. die typische Ausprägung eines „entgrenzenden", durch Seinsverdoppelung die
Welt ihrer Substanz beraubenden Philosophie. „In Plotins Philosophie wurzelt die
moderne Philosophie der Schönheit mit ihrer ganzen Sentimentalität und ihrer gan-
zen Unfruchtbarkeit" (25). Als eine „Ästhetik des höchsten Gutes" ist sie „Gehalts-
ästhetik" und ruft dadurch ihrem Gegenspieler, die nur scheinbar mit der alten
Symmetrielehre identische formalistische Theorie, auf den Plan. Die Ablehnung des
Idealismus trifft aber auch Plato selbst und führt zu einer Rettung Piatos gegen
seine eigne Ideenlehre durch eine sehr kühne Entwicklungshypothese. Piatos Spät-
philosophie soll sich in Zentrierung um den Begriff der zägig von dem „Fluche der
Ideenlehre" (15) gelöst haben.

Ein weiterer Leitbegriff, der aus der mystisch dunklen Form des Symmetrie-
prinzips als des Grundgedankens einer „Ästhetik der Urzeit" (15) in das konkrete
geschichtliche Leben hineinführt, ist der Begriff des Stils. Stil ist für B. ein zeitlich-
geschichtliches Gebilde von immanenter Formgesetzlichkeit, aber zugleich „Aus-
druck des Daseins und der Gestaltungskraft von Völkern und Rassen" (98). Jedem
Stil liegt eine geschichtlich bestimmte „Idee" zugrunde. Mit dieser Feststellung
fallen wir aber nicht in den Piatonismus und Idealismus zurück. Denn es ist hier
nicht ein „zeitloses Ideal" gemeint, sondern „das irdisch-geschichtliche Hochbild
wirklicher Menschen", das nicht vor der Geschichte feststeht, sondern „aus ihr ab-
gelesen werden" muß (ib.). Dieser letzte Angriff auf den Idealismus ist weitaus radi-
kaler als die Ablehnung der vieldeutigen Ideenlehre oder der fragwürdigen Seins-
verdoppelung. Er trifft den Idealismus nicht als philosophische Partei, sondern die
ethische Voraussetzung alles seit den Zeiten des Plato und Aristoteles in dem Vor-
satz des äftävava cpgovelv wurzelnden Philosophierens. B.s Ästhetik zeigt sich da-
mit in jenen nun schon bekannten verzweifelten Versuch verwickelt, der aus der
inhaltleeren Existenz dadurch zur realen historischen Situation gelangen will, daß er
in den Willen selbst (der doch, wenn er ganz will, nur Ewiges wollen kann) die
historische Relativität des Gewollten aufnimmt. Das heißt so viel wie wollen und zu-
gleich nicht wollen, sich einsetzen und sich vorenthalten. B.s Schrift erfreut fast
auf jeder Seite durch eine Feinheit des historischen Blicks (vgl. z. B. die schöne
Kennzeichnung des „Stils der Schönheit" in der Renaissance, S. 73), wie sie viel-
leicht nur in der durch Dilthey geschulten deutschen Geisteswissenschaft gediehen
ßt. Aber zugleich zeigt sich der Verf. trotz innerem Widerstand in alle denkerischen
Gefahren verwickelt, die eine ihres Grundes im Absoluten beraubte Geschichtsmeta-
physik dieser Schule als Erbe vermacht hat, und die sie zwar zu bewunderungs-
würdigen Leistungen feinsinniger Interpretation, aber kaum je zu einer rein er-
 
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