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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0180
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BESPRECHUNGEN

so etwas wie „Naturgefühl" gegeben habe1). Dabei ist man freilich über eine stoff-
reiche Sammlung und schematische Ordnung von Zeugnissen aus der mittelalter-
lichen Literatur, vor allem aus der lateinischen Schulpoesie, der Vagantendichtung und
der Minnelyrik kaum hinausgekommen, und auch die neuesten Erörterungen über die
Eigenart und die Ausdrucksformen mittelalterlicher Naturempfindung und über ihre
geistesgeschichtliche Beurteilung2) sind so unergiebig geblieben, daß man ein neues
Buch über mittelalterliches Natur- und Landschaftsgefühl zunächst mit Mißtrauen
zur Hand nimmt. Umso angenehmer wird man von Böheims Arbeit enttäuscht. Im
Gegensatz zu seinen Vorgängern ist er weder in der Stoffsammlung stecken geblie-
ben noch in nichtssagende Verallgemeinerungen oder methodologische Auseinander-
setzungen abgeglitten. Er ist sich durchaus der besonderen Schwierigkeiten seiner Auf-
gabe bewußt: daß es sich hier um die geschichtlichen Wandlungen eines „Gefühls"
handeln soll, das sich auf die gleichbleibende äußere Gegebenheit der Natur bezieht,
daß dieses „Gefühl" aber nur in seinen Objektivationen in Dichtung und Malerei zu er-
fassen ist, die ihrerseits gerade im Mittelalter so stark im Banne literarisch-künstleri-
scher Traditionen stehen, daß vielfach übernommene Ausdrucksformeln jedes persön-
liche, unmittelbare Naturempfinden überdecken oder ersetzen. Diese Schwierigkeiten,
an denen seine Vorgänger gescheitert sind, sucht B. zu lösen, indem er einerseits nicht
von der Frage ausgeht, auf welche Gegenstände sich das Naturgefühl jeweils bezieht

— denn „im Grunde genommen bleiben die Hauptmotive zu allen Zeiten die gleichen"

— sondern von der Subjektseite aus das Naturgefühl „in die Ganzheit des Gefühls-
und Phantasielebens zu stellen" sucht; und indem er sich andrerseits nicht auf lite-
rarische Zeugnisse beschränkt, sondern auch die bildende Kunst, die Malerei in seine
Betrachtung einbezieht. Als Kunsthistoriker (aus Pinders Schule) hat er seine Arbeit
in Angriff genommen, und auch bei der Untersuchung literarischer Landschaftsschil-
derungen geht es ihm nicht so sehr um die Gefühlswertung einzelner Naturdinge als
um die „ganzheitliche Erfassung der Landschaft" als Bild. Dabei hat er nun eine
eigenartige und für sein Thema sehr bedeutsame Entdeckung gemacht: Im frühen
Mittelalter, unter der Herrschaft der christlichen Lehre, die alle Natur nur in ihrer
Bedeutung für das göttliche Heilswerk am Menschen oder als Sinnbild für transzen-
dente Wahrheiten gelten läßt, bot sich zunächst und auf lange hinaus nur eine ein-
zige Möglichkeit reich entfalteter Landschaftsbeschreibung — in der Schilderung des
Paradieses, wie es einst gewesen ist und wie es einst sein wird. Während man alle
irdische Wirklichkeit ins Geistige umdeutet und nur als Träger höheren Sinngehalts
der Beachtung für wert hält, wird das Jenseits, die schönere Zukunft der erlösten
Menschheit versinnlicht, um der Phantasie bildhaft-eindrucksvoll zu sein. Die Farben
zu diesem Paradiesesgemälde liefert aber nicht nur der biblische Schöpfungsbericht
und die Apokalypse, sondern auch das bukolische Landschaftsideal der ausgehenden
Antike, der Traum von ungestörten Gartengenüssen in ewig blühenden und duftenden
Gefilden ist in dieses christliche Idealbild vom Leben im Jenseits übergegangen und
auf diesem Wege für Jahrhunderte zum Schema aller Landschaftsbeschreibung, zum
Gradmesser für die Schönheit eines Landschaftsbildes überhaupt geworden. Nicht
nur die weit verbreitete Visionenliteratur des Mittelalters (bis zu Dante) sieht ihre

!) Alfred Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls im Mittelalter und in
der Neuzeit, 1888. — GertrudStockmayer, Über Naturgefühl in Deutschland
im 10. und 11. Jahrhundert, 1910. — Wilhelm Ganzenmüller, Das Natur-
gefühl im Mittelalter, 1914.

2) K. Wührer, Romantik im Mittelalter; Beitrag zur Geschichte des Natur-
gefühls, im besonderen des 10. und 11. Jahrhunderts, 1930. — Niels Wi Ising,
Naturgefühl im Mittelalter; der Stand des Problems und seine Methode. Histor. Vier-
teljahrschrift XVXI, 1931.
 
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