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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0191
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BESPRECHUNGEN

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Auch Schindlers Mitteilung, daß Beethoven, um den „Schlüssel" zur Klavier-
sonate d-moll op. 31 (und f-moll op. 57) befragt, zur Antwort gegeben haben soll:
Lesen Sie nur Shakespeares ,Sturm'! gab Scherings Untersuchungen eine bestimmte
Richtung, die zu dem Endergebnis führte, daß Beethoven bei der Komposition der
hier behandelten Werke (Streich-Quartette op. 74, 95, 127, 130 und 131, Klavier-
sonaten op. 27, 1 u. 2, 28, 31, 1 u. 2, 54, 57, 111 und 106), deren Entstehung sich
über einen Zeitraum von 26 Jahren erstreckt — die 3., 4. und 5. Symphonie Beet-
hovens sind von Schering schon früher behandelt worden — sich bewußt an poeti-
sche Vorbilder angelehnt habe. Schering drückt das sehr schön aus:

„Unsere Methode setzt zwar die Deutung der Beethovenschen Affektsprache
voraus. ... Aber sie geht darüber hinaus und stützt sich auf die Annahme, daß —
ebenso wie bei Seb. Bach — Beethovens musikalische Sprachelemente nicht nur ein-
seitig als bloße Affektsymbole, sondern zugleich als Symbole bestimmter innerlich
geschauter Bilder, Gesten, BewegungsVorgänge, Situationen, Handlungsformen und
dergl. aufzufassen sind. Es liegt die Überzeugung zugrunde, daß Beethovens
Geistigkeit die innere, nicht-gegenständliche Welt des Seelischen und die äußere,
gegenständliche Welt der Erscheinungen gleichmäßig umfaßte, indem er das
Wesen der einen im Wesen der andern widergespiegelt fand. Wird diese Tatsache
anerkannt und mit allen ihren Folgen bedacht, so bekommt das geistige Bild Beet-
hovens, wie es uns bisher erschienen, eine mächtige Steigerung nach der Richtung
des Universalen hin."

Fast alle hier behandelten Werke — mit Ausnahme der Hammerklaviersonate
op. 106, der Schering Schillers Jungfrau von Orleans' unterlegt, verdanken ihre
Entstehung von Shakespeare ausgehenden Anregungen, und zwar sucht Schering
nachzuweisen, daß nicht einzelne, herausgerissene Szenen die Unterlage bilden,
sondern daß Beethoven bei irgend einer wichtigen Szene seiner Vorlage einsetzt
und dann in logischer Weise die folgenden Hauptszenen als Anregung benutzt, so
daß sich gewissermaßen in den Quartetten und Klaviersonaten die „ungeschriebe-
nen Opern" verbergen.

Beethoven benutzte die Shakespeare-Übersetzung von J. J. Eschenburg, die im
Jahre 1777 vollständig erschienen war. Dies zu erwähnen ist wichtig, weil Schering
sogar so weit geht, ganze Textstellen unterzulegen.

Ein Beispiel möge Scherings „Heuristik" erläutern: Das f-moll-Quartett op. 95
geht nach Schering auf den Othello zurück. Es beginnt mit der 2. Szene des vierten
Aktes (Othello und Desdemona); Othellos furchtbarer Leidenschaftsausbruch (Haupt-
thema), dazwischen die „Klagen und Bitten" Desdemonas. Der 2. Satz folgt der
3. Szene des 4. Aktes: Desdemona und Emilia, Lied von der Weide, Gespräch zwi-
schen den beiden Frauen über Treue und Untreue. Desdemona sinkt in Schlummer.
Der 3. Satz entspricht der 2. Szene des 5. Aktes: Monolog Othellos; er küßt sie
und weint. Fortsetzung der Szene im 4. Satz: Verzweiflung und Mord, Apotheose
der Unschuld (von Beethoven hinzugefügt).

Niemand wird abstreiten, daß unbedingt ein solcher „programmatischer" Ge-
danke, wie er in den beiden Schlußakten des Othello enthalten ist, diesem Quartett
zugrunde liegen könnte und jedenfalls tausendmal mehr Wahrscheinlichkeit für sich
hat als die Art und Weise von Hermeneutik, die in der Beethoven-Biographie von
Deiters-Riemann für den letzten Satz dieses Quartetts, der nach Schering den Tod
Desdemonas und Othellos mit nachfolgender Verklärung darstellt, folgende Deu-
tung findet, die ich nach Scherings Buch zitiere:

„Erst der Schlußsatz bannt die finsteren Gedanken und ringt sich zu heller
Lustigkeit (!) durch. Die kurze Einleitung (Larghetto) baut sich zwar noch auf dem

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXIX. 12
 
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