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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Gesellschaft für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0206
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BERICHT DER GESELLSCHAFT FÜR ÄSTHETIK

erweist sich somit als nicht gangbar, ist doch die Kunst neben der Philosophie und der
Religion eine ewige Sprache der Menschheit, die nicht „überwunden" werden kann.

3. Im Gegensatz zur apriorischen Konstruktion nimmt die Untersuchung ihren
Fortgang in einer phänomenologischen Analyse des sinnerhellten Seins der Kunst.
Gleich wie das Werkzeug nicht blicklos in seiner materiellen Form beschlossen ist,
sondern aus seiner Verwendung und aus dem geschaffenen Werke seine Sinnhaftigkeit
erhellt, die weit über das Werkzeug hinauswächst, so verhält es sich auch mit der
Kunst. Verwandt ist sie der Sinnhaftigkeit des Werkzeugs auch darin, daß diese nicht
etwa Bewußtsein ist. Damit ist jene ganze Merkmalsschicht aus dem Kunstwerk ausge-
ordnet, in der in urteilsmäßig-expliziter Form etwas ausgesagt wird über den Sinn von
irgend etwas, vor allem über den Sinn von Kunst selber (Künstlerroman). In einer an-
deren Schicht erweist sich das Kunstwerk sinnerhellend durch Sinngestaltung, und diese
Schicht scheint mit dem eigentlich künstlerischen Sein in besonders enger Verbindung zu
stehen. In ihr werden Entscheidungen von weltanschaulicher Tragweite gefällt, wie an
Kellers „Grünem Heinrich" nachgewiesen wird; der Lebenslauf des Helden wird in
dieser Hinsicht zu einer allgemeinen Entscheidung über den Sinn und den Wert des
Lebens. Zugleich läßt sich aber nachweisen, daß mindestens für den Künstler selbst
die so erreichte Weltanschauung zum Ausgangspunkt wird für die Klärung seines
Begriffes von Kunst, sodaß das Kunstwerk jetzt in der Tat angesehen werden könnte
als Quelle kunsttheoretischer Einsichten. In der Künstlerästhetik objektiviert sich diese
als ununterbrochene Verlängerung der im Kunstwerk selber angelegten Offenbarkeit
vom Sinn der Kunst entstandene „Theorie".

4. Hier erhebt sich jedoch die Frage nach der Berechtigung dieses Verfahrens,
die sich zerspaltet in die kritische Geltungsfrage gegenüber der Künstlerästhetik und
in eine ontologische Frage nach dem besonderen Bilde von Kunst, das auf diese Weise
entsteht. Zweifellos bietet die Kontinuitätssetzung zwischen dem Kunstleben und der
Kunsttheorie den Vorteil, die Kunsttheorie vor theoretischer Verdünnung zu bewahren.
Auf der anderen Seite finden wir aber dennoch in dieser Kontinuität nicht den wahren
Erkenntnisgrund für das Sein der Kunst. Muß doch jede so entstandene Theorie dem
Dogmatismus verfallen, der sich notwendig aus dem Bestimmtheitscharakter der wirk-
sam werdenden Weltanschauung herleitet. Im folgenden werden mehrere bezeichnende
Folgen dieses Dogmatismus aufgewiesen. Aufschlußreicher ist aber die ontologische
Betrachtung des aus einer solchen Lehre entstandenen Kunstbildes. Die im Kunstsein
selber wirksame Offenbarkeit vom Sinn der Kunst verfälscht das eigentliche Sein der
Kunst und treibt vor allem jene unechte Kunstform hervor, die als „Klassizismus"
bekannt ist, d. h. jene Kunstform, die nicht Kunst schlechtweg sich zum Ziele setzt,
sondern eine durch Vorurteile bestimmte und eingeschränkte Kunst. Weitere Folgen
dieser Anschauung sind die Kunstprogrammatik und der künstlerische Doktrinaris-
mus. Als Resultat ergibt sich, daß die Schicht, in der Kunst zum Träger von einer
Sinnoffenbarkeit besonderer Natur vom Wesen der Kunst wird, nicht nur nicht iden-
tisch ist mit dem eigentlichen Kunstsein, sondern dieses geradezu zerstört. Es wird
dabei die ganze Fragwürdigkeit jener gegenwärtigen Ontologie sichtbar, die vom
Dasein, das schon immer sich selbst verstanden hat, ausgeht (Heidegger), und es ent-
springt aus der ganzen Darstellung die Forderung nach einer grundsätzlichen Revi-
sion des Lebensbegriffes, wie ihn die Existenzialphilosophie unserer Tage ausgear-
beitet hat.

In der Diskussion suchte Dr. W. Ziegenfuss die Fragestellung noch mehr zu
erweitern, während Prof. Dessoir vor allem auf das Problem hinwies, daß eine sinn-
erschließende Kraft des Kunstwerkes wahrscheinlich nicht gleichmäßig angesetzt
werden kann (z. B. in der Musik).
 
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