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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Ritoók, Emma von: Die Wertsphäre des Tragischen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0248
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EMMA VON RITOOK

Ereignisses? Diese ist aber nicht weniger verwirrt. Das erlebte Leben mit
seiner Zerklüftung der äußeren und inneren Phänomene, mit seiner Flucht
des Geschehens, mit den sich aufeinander türmenden Begebenheiten, Wider-
sprüchen, Sinnwidrigkeiten ist ja ganz formfremd. Alle „Wirklichkeits-
theorien" stimmen mit dieser Einsicht überein. „Das Tragische als solches
ist in der Wirklichkeit verhüllt, verdeckt gegeben, und anschaulich nicht
voll sichtbar und erlebbar", sagt V o r h o 1 z. „Was will denn die Ästhetik
untersuchen, wenn ihr Material... verfälscht und nur torsohaft dem ästhe-
tisch Erlebenden zur Verfügung steht?" (a.a.O. S. 65f.). Jawohl, die
Ästhetik hat in der Wirklichkeit nichts zu suchen, denn sie würde nichts
finden, wenigstens jene Ästhetik nicht, die Kunstphilosophie ist und ganz
fremd jener Ästhetik gegenübersteht, die sich mit Naturschönheit und
Wirklichkeits-Tragik befaßt, deren strenge Definitionen sie aber nicht
geben kann, weil ihr Gegenstand flüchtig, unbestimmt und im höchsten
Grade vom subjektiven Werten abhängig ist. Jene Ästhetik kann in der
Wirklichkeit nichts finden, da ein mit „Schlacken bedecktes, verfälschtes,
torsohaftes" Tragisches ja überhaupt nicht das Tragische ist, das als Kate-
gorie, d. h. als konstruktive Form Geltung fordert. Es wäre auch eine sehr
armselige Aufgabe für den Künstler, zumal den Dichter, wenn sein
Schaffen nichts mehr bedeutete als die Wirklichkeit von Schlacken zu be-
freien. Aber wenn zugleich behauptet wird, daß erst die Kunst das Wesen
des tragischen Geschehens, das reine, unverhüllte Bild der Tragik sichtbar
macht, kann ich — allerdings aus anderen Gründen — nur beipflichten.
Es kann uns im Leben hie und da ein Aufblitzen oder Aufdämmern einer
tragischen Formungsmöglichkeit auffallen, aber das Tragische verwirk-
licht sich nur in der Kunst aus der Vision des Künstlers, aus seinem künst-
lerischen Weltbild, dem gegenüber nur das metaphysische Weltbild mit
ähnlicher Wertforderung auftritt. Wir können diese künstlerische Tragik
in das Leben einfühlen, aber wir können ihre immanente Gesetzlichkeit nur
unvollständig, mangelhaft, nach subjektivem Gutdünken, ohne die For-
mungskraft des Schaffens, auf die Begebenheiten des Lebens übertragen.
Das Einfühlen wird hauptsächlich durch den tragischen Untergang als
den erschütterndsten Eindruck beeinflußt, und der Tod wird in der Wirk-
lichkeit als das Tragische an sich gefühlt. Die Kunst zeigt dem Leben,
was seine Wirklichkeit sein könnte. Künstlerische Tragik, als wesenhafte
Verwirklichung durch die Kategorie des Tragischen, ist Vollkommenheit
aus der Wirklichkeit des Lebens betrachtet — sie kann Unvollkommenheit
nur sub specie aeternitatis sein. Die Tragödie als künstlerischer Ausdruck
bringt die Tragik nicht nur rein und wesenhaft zur Anschauung, sondern
sie allein läßt auch rein die formende Kategorie des Tragischen in Erschei-
 
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