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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Ritoók, Emma von: Die Wertsphäre des Tragischen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0257
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DIE WERTSPHÄRE DES TRAGISCHEN

243

Zu unserer Grundfrage zurückkehrend betonen wir: wir haben in der
Kategorie des Tragischen eine Form, eine intentionale Formgebung für
ein Geltungsgebiet. Die Form bezieht sich auf bestimmte Merkmale, die ein
Geschehen charakterisieren, das durch die Form eine synthetische Ein-
heit erhält, die wir mit dem Begriff Tragik bezeichnen. „Gelten" selbst ist
eine konstitutive Kategorie, die Kategorie eines Wertes für alle Wertgebiete
und Wertphänomene. Hier treffen wir wieder auf die Frage der Tragik der
Wirklichkeit. Kann diese Art der Tragik ein Wertphänomen sein? Selbst
S c h e 1 e r behauptet nicht, daß sie ein Wert ist ebenso „wie schön, häßlich,
gut, schlecht. Wohl erscheint aber das Tragische an Dingen, Menschen,
Sachen nur durch die Vermittlung der ihnen anhaftenden Werte"28). Da
in der Wirklichkeit das Tragische einen Wert nicht vom Ästhetischen her
gewinnt, so mußten die Wirklichkeitstheorien den Wert aus einem anderen
Gebiete holen. Die Tradition gab das Gebiet der Ethik als das nächstlie-
gende an, ohne dadurch der künstlerischen Tragik in der Tragödie, also
der reinen Veranschaulichung des „Tragischen der Wirklichkeit", gerecht
zu werden. In der Kunst löste die Theorie alle Schwierigkeiten damit, daß
sie die ihnen nicht entsprechenden Tragödien einfach aus dem Tragischen
strich und sie als Trauerspiele ansprach. In der Sphäre der Wirklichkeit
konnten einzelne Beispiele leicht gefunden werden, da man auf dieser
Ebene das auswählen kann, was der Theorie am passendsten ist, ohne daß
man—außer der subjektiven Überzeugung—Beweise aufstellen könnte. Die
Schwierigkeit lag nun darin, daß, wenn die Tragik der Wirklichkeit keine
Wertqualität hat, ihr Auftreten als etwas ganz Wertloses, als Gräßliches,
Zufälliges erscheinen und die irrationale Formlosigkeit des Lebens bezeu-
gen mußte, wie die konsequenten Pessimisten das Leben auch immer
betrachtet haben. Hierzu konnten sich die wenigsten entschließen. Es
mußte also ein Wertprinzip gefunden werden. Diese Rettung der Tragik
zeugt von ihrer eigenen Zeit. Um jene schreckliche Wahrheit zu ver-
schleiern verlor die Tragik auch in der Kunst ihr eigentliches Wesen. Der
tragische Mensch ist in seiner Abhängigkeit von einer unerklärlichen
Macht und in seinem selbstbewußten Widerstand so voll düsterer Größe,
seine Leidbestimmung ist so tief in dem Allgemein-Menschlichen ver-
ankert und in der Wirkung seines Kampfes so erschütternd, daß solche
Zeiten, die keine tragische Weltanschauung haben und keine Tragödien in
der Kunst vertragen, sie durch eine ethische Sinngebung mildern wollen
und sie dadurch verflachen. Es ist die Auffassung des „Man" (im Sinne
Heideggers), dem es unerträglich ist, einer Irrationalität einfach in die
Augen zu schauen, die die Kunst der Griechen, die englische Renaissance,
selbst die in der Theorie ethisch gesinnte französische Klassik oder Schil-

) Das Phänomen usw. a. a. O. S. 242.
 
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