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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Ritoók, Emma von: Die Wertsphäre des Tragischen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0267
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DIE WERTSPHÄRE DES TRAGISCHEN

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schieiern. Der Rausch der Macht entartet in Ungeheuerlichkeit, das Wol-
len geht nach einer Unbedingtheit und jagt den Helden in die schauer-
lichsten Konflikte. Shakespeares historische Dramen zeigen die reichste
Variation vom tragischen Macht-Wollen, welches immer tief mit ethischen
Konflikten verbunden ist, es geht ja gegen die Freiheit der Persönlichkeit
anderer Menschen. Lears auf die äußerliche Erhaltung seiner Königs-
würde und Macht gerichtetes Wollen bricht sich an dem entgegengesetzten
menschlichen Wollen; aber seine eigentliche Tragik beginnt erst, als er
wenigstens seine menschliche Würde aufrechterhalten will; da bricht das
Schicksal über ihn herein und entblößt ihn so völlig aller Macht und
Würde, daß er nicht nur als König, sondern auch als Mensch untergeht.
Andererseits kann das Machtwollen auch auf unegoistische Ziele aus-
gehen; ßorkmann sagt: „Ich habe die Macht geliebt ... die Macht Men-
schenglück zu schaffen."

Das Schicksal an sich, unbekannt und gesetzlos, wenn es als dunkle
Macht sich zeigt, kann im Kampf als erkennbare Erscheinung dem Ich
gegenübertreten; in diesem Falle ist seine Erscheinung nur die Maske,
die wir erkennen, nur irgendeine Form, die es annehmen kann, um als
Welt, als Macht des Staats oder der Gesetze, als ethische Forderung, als
ein anderes menschliches Wollen den Kampf zu führen. Dadurch erhält
die Tragik im Drama ihre Diesseitigkeit, wird menschlich näher gerückt,
ohne daß sie die Beziehung zum Transzendenten verlöre. Als maskiertes
Schicksal haben diese Erscheinungen ein anderes Antlitz als im täglichen
Erleben; sie erhalten etwas Dunkles, mystisch Drohendes, die Irrationa-
lität der Schicksalsmacht. Der sonst das Ich bergende und schützende
Staat oder die Gesellschaft erhebt Waffen gegen es, strenge Gesetze werden
unerbittliche Tyrannen, sittliche Forderungen stellen Fallen auf, andere
Menschen werden zu verkannten Feinden, und der Kampf mit ihnen wird
im innersten Fühlen des Helden ein Kampf mit dem Schicksal. Der Zwie-
spalt zwischen Ich und Welt, Ich und Gesellschaft, Ich und Du werden in
einer Spannung erlebt, die unerträglich und unlösbar scheint. Sie werden
zu Fragen des Lebens und Todes.

Das Schicksal in dieser seiner wesenhaften tragischen Rolle wird von
jedem Tragödiendichter, sollte er sonst auch entschieden Schuldtheoretiker
sein, in seinen Werken künstlerisch immer verwirklicht. Sehr charakte-
ristisch ist Schillers Äußerung zu Goethe über den „Wallenstein" während
dessen Abfassung: „auch ist der ... Grundfehler in der Katastrophe ...
noch nicht ganz überwunden. Das eigentliche Schicksal thut noch viel zu
wenig und der eigene Fehler des Helden noch zu viel zu seinem Un-
glück." Wilhelm Meister sagt über Shakespeare: „Man glaubt vor den
aufgeschlagenen, Ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen." So fin-
den wir auch — von den antiken Tragödien gar nicht zu sprechen — in
 
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