Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

DOI Artikel:
Wetzel, Justus Hermann: Einfache und mehrfache Stimmführung: mit Bezug auf Ehrenfried Muthesius, Logik der Polyphonie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0270
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
256

BEMERKUNGEN

ligungstendenz und deren Andeutungen. Durch ein hochentwickeltes Bedeutungs- und
Bezugssystem zwischen ihren Gliedern erhebt sich die tonal- und gliedbaulich zum
geistig-künstlerischen Bedeutungsgefüge durchorganisierte Melodie hoch über die bloß
triebhaft spielende und metrisch geregelte Tonlinie (Vogelgesang). Ein so in sich
tektonisch durchorganisiertes Melodiegebilde muß in seiner Geladenheit immer aus
sich, über sich hinaus zu wirken streben. Was in ihm an strukturellen Anlagen an-
gedeutet ist, kann erst in Verbindung mit anderen Stimmen, die sich seinem primären
und übergreifenden Lebensgesetze einfügen, zur vollen Entfaltung gebracht werden.

Die Melodie ist das musikalische Sinnbild des biologischen Lebewesens, der be-
seelten Person. Als solches ruht sie nicht in sich, sondern wirkt, kreist, strömt
in sich und ist bestimmt, ihr Wirkungsvermögen nicht nur an und in sich zu erweisen,
sondern es auf wesensverwandte Gebilde, sie erzeugend und an sich bindend, über-
zuströmen. Mit jeder Melodie werden Gegenmelodieen, vorerst nur in der Vorstellung
des Schöpfers sich andeutend, gezeugt, wenn auch nicht immer gleich hörbar geboren.
Wie der Begriff des Einzellebewesens, der Persönlichkeit den Kontrast und Vereins-
begriff der überpersönlichen Lebensgemeinschaft fordert, so erzeugt die Melodie den
Begriff des Melodieverbandes, satztechnisch gesprochen: des polyphonen Tonsatzes,
für dessen Ausgestaltung keine anderen Formprinzipien gelten als die, aus denen die
Melodie erwuchs. — Oder: wie die Begriffe Familie und Person sich wechselseitig
fordern und hier das Ganze vor den Gliedern zu denken ist, so entwachsen Melodie
und Polyphonie geeint unserm Musikbewußtsein, und man muß wohl sagen: die
Melodie ist nur eine Teilverwirklichung und somit eine keimhafte Abspaltung vom
polyphonen Tonkörper; ein erster andeutender Entwurf dieses innerlich vorgeahnten
Ganzen, der von der Tendenz lebt, dieses Ganze zukünftig aus sich erklingen zu
lassen.

Daher darf man nicht einen wesenhaften Unterschied zwischen der monodischen
Melodie und dem polyphonen Tonsatz behaupten, denn die Melodie stellt bereits alle
späterhin (für den sich aus ihr entfaltenden Tonsatz) geltenden Formelemente und
deren funktionelle Bedeutungen auf: das Motiv (Keimgebärde), die Motivgruppe
(Phrase), den Gruppenverband (Vers), die Strophe, das Thema (den musikalischen
Charakter); — sie entfaltet ihr Tonfolgeleben nach dem Formprinzip strenger oder
freier Korrespondenz in nachahmender oder kontrastierender Gebärdung; — sie mo-
delliert den linearen Gegensatz des Gipfeins und sich Senkens heraus, also die funk-
tionell wechselnde Weitung und Verengung (das Atmen) des hinfließenden Satzban-
des; — die Melodie ordnet ihre Töne genau so nach dem Prinzip des tonräumlichen
Gleichgewichtes um eine Anhörungsaxe (Tonika) wie später der polyphone Satz das
kompakte Klangfolgeleben gleichsinnig tonal ordnet. In der Melodie entfaltet sich also
schon, duftig und nur angedeutet, das gesamte rhythmisch organisierte, bedeutung-
geladene Tonleben der Polyphonie.

Das mehrstimmige Musizieren kann also nur Ausbauen einstimmiger Melodik
sein. Melodik und Polyphonie sind zwei Verwirklichungsstadien (im Verhältnis von
Vorstufe und Vollendung) des einen rhythmisch-tektonisch organisierenden Form-
gesetzes unseres Musikbewußtseins. Einstimmigkeit ist erst angelegte, noch offen
lassende, „kindliche" Musik mit erst potentiellem Geselligungsvermögen. Mehrstim-
migkeit ist volle Entfaltung dieses Vermögens, durch vollzogene Stimmgeselligung
ausgereifte Musik. Ein Zwischen- und Übergangsstadium von der Melodik zur Poly-
phonie zeigen die der instrumentalen Kunstmusik (Bach, Brahms) eigenen latent
zweistimmigen Melodiebildungen. Was Muthesius Logik der Melodie nennt, ist
die Summe jener zuvor genannten geistig-musikalischen Bezüge, auf Grund derer
Musik sich im akustischen Phänomen des Klanges entzündet. Wie das biologische
 
Annotationen