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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Wetzel, Justus Hermann: Einfache und mehrfache Stimmführung: mit Bezug auf Ehrenfried Muthesius, Logik der Polyphonie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0273
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BEMERKUNGEN

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liebevoll einsingen. Sie kann auch sich und den Hörer zwiespältig erregen wie im
heftigen, kaum zu bändigendem Willensvordrang.

Diese Tendenz zum Aussichheraustreten, dieses sich mit sich selbst Auseinander-
setzen, dieses sich gegen sich selbst Wenden (nicht immer feindlich befehdend, oft
nur tätig feststellend und sich bestätigend), diese Tendenz ist das eigentlich kontra-
punktische Gestaltungsprinzip, welches die geschlossene Melodie gleichsam zu spal-
ten trachtet und mehrstimmig entfaltet. Hinter ihm steht ein naturbevorzugter und
kulturgehobener Musikgestaltungswille, dem es nicht genügt, den in der Phantasie
vorausgeahnten Tonsatz melodisch einstimmig anzulegen, weil er ihn mehrstimmig
zu entwickeln fähig ist.

Hier sind dann die Stimmen zwar melodische Gegenspieler, aber weniger Riva-
len, als sich fördernde Freunde, — Geschwister und Gefährten des erstgeborenen
Einfalls. Als solche lassen sie familiäre Ähnlichkeiten in ihrem Gebaren erkennen.
Sie ahmen einander nach, weisen sich den Weg (imitierender Kontrapunkt) und glei-
chen damit einander an, zugleich doch ihre Selbständigkeit und Gleichberechtigung
wahrend. Sie entlehnen voneinander ihre Gebärden, befruchten und inspirieren sich
damit. Es herrscht ein tätiges Zusammenwirken, wo die Genossen sich beispringen
und jeder dem Andern in seinem Ausdrucksstreben zu ergänzen sucht. Das Parallel-
gehen der Stimmen ist hier genau so angemessen wie die Gegenbewegung oder das
Zugleich von Ruhe und Bewegung.

Solch ein imitatorisch-kontrapunktischer Satz ist natürlich in seiner endgültigen
Ausgestaltung mehr das Ergebnis anerzogenen Stimmführungsgeschicks und satz-
technischen Wissens als eine phantasiegetragene Improvisation. Aber der Ausarbei-
tung muß ein Erahnen und ungefähres Erlauschen vorausgegangen sein. Es gibt einen
mehrstimmigen Phantasieentwurf (das den geborenen Musiker kennzeichnende Gunst-
geschenk), neben und über dem melodisch einstimmigen Einfall, mit dem sich der
Dilettant zu begnügen hat.

Der Kontrapunkt, für sich geübt und gehört, ist ein nüchtern geistiges Kombi-
nationsspiel; erst wenn er in Verbindung mit dem tektonischen Organisieren gehand-
habt wird, erwächst ihm Beseeltheit, und diese poetische Zier kann ihm nur durch
Inspiration und Kunstarbeit vereint gewonnen werden. Es kann wohl sein, daß ein
in zeitlichen Abständen und bei wechselnder Gefühlshaltung langsam gearbeiteter
Kontrapunkt durch jenen heiligen Eifer, den keine Mühe bleicht, in den Rang einer
beseelten Mitstimme erhoben wird, daß dagegen ein im ersten stürmischen Schaffens-
impuls zugleich mit der Melodie gekommener Kontrapunkt erst noch gründlicher
berechnender Durcharbeitung bedarf, um völlig organisch gewachsen und gefühls-
verbunden zu wirken. Welche Rolle auch bei dem polyphon Begabten die sorgfältige
Ausprobierung des besten Stimmführungsweges, das kontrollierende Variieren der
Stimmführung spielt, kann nur der beurteilen, der diese Arbeiten bis zu dem Punkte
führte, wo sie über die musikantische Vollendung hinaus dichterisch bedeutsam
werden. Wie gesagt: nur bis zu einer gewissen Grenze kann den polyphonen Tonsatz
ein Einfall führen, dann wird entweder die stereotype handwerkliche Formulierung
die Fortsetzung übernehmen oder das bedächtige Überlegen und Nachfeilen, welches
die überzeugenderen Ergebnisse zeitigt. Wie kaum jemals eine vollendete Me-
lodie schon im ersten Anlauf gewonnen wird, so noch seltener das vollkommen
durchgearbeitete zwei- und mehrstimmige Melodiegeflecht. Da gibt es denn doch zu
viel zu bedenken und nachzuprüfen, als daß auch dem begabtesten und erfahrensten
Meister gleich alles geraten könnte.

Das strengste, fast pedantische Verfahren ist der Kanon. Das hier geltende
Stimmführungsgesetz, daß der Verlauf der Stimmen in seinen Intervallschritten und
 
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