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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Wetzel, Justus Hermann: Einfache und mehrfache Stimmführung: mit Bezug auf Ehrenfried Muthesius, Logik der Polyphonie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0277
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BEMERKUNGEN

263

Ihre Gesetzlichkeit wird nicht in psychologischer, aufs Ich bezogener Be-
handlung, sondern in logisch-kategorialer Formulierung (Schematisierung) fest-
gestellt. In der Polyphonie verschwebt das gefühlsbestimmte Subjekt in die über-
persönliche Objektivität musikalischen Sinnzusammenhanges. Nicht das zeitlich be-
dingte, von Gefühl zu Gefühl schwankende Subjekt ist der Schöpfer reiner Poly-
phonie, sondern es tritt nur als Werkzeug und Mittler eines allgütigen gestrengen
Gestaltewillens in Tätigkeit, wobei es sich einem ihm übergeordneten Musikbewußt-
seinsgesetz unterordnet.

Eine solche Zweiteilung der Musik ist nur als theoretisches, systematisierendes
Prinzip anzuerkennen. Wie es keinen ausschließenden Gegensatz zwischen Homo-
phonie und Polyphonie, ja nicht einmal zwischen Ein- und Mehrstimmigkeit gibt
(s. S. 256 u.), sondern beide Gebiete nur Stufungen der musikalischen Formung sind,
so gibt es auch keine nur gefühlsbestimmte Musik, so wenig wie eine gefühlsbare rein
logische Polyphonie, wenn auch zuzugeben ist, daß das rein musikantische logische
Beziehen da vorwaltet, wo das Vermögen, das Gefühl innig aufglühen zu lassen,
schwach ist. Herz und Gefühl walten in jeder lebendig und groß gearteten Kontra-
punktik, weil sie immer eine geniale Melodik zur Voraussetzung haben muß. Die
Attribute, welche die religiöse Phantasie ihrem Schöpfer des Kosmos zuspricht: all-
wissend, allmächtig, allgütig, — sie vereint kennzeichnen den großen Musikschöpfer
in seiner Welt auf Grund seiner Meisterwerke.

Das Endergebnis der Muthesius sehen Darlegungen ist die Einsicht, daß
in der Polyphonie sich die harmonisch tonale Bedeutungssphäre mit der linear melo-
dischen verschmilzt, daß also vollendete Polyphonie ohne tonale Ordnung ebenso
wenig möglich ist, als Homophonie ohne tektonisch gegliederte Melodik. Logik der
Polyphonie ist also gleichbedeutend mit Logik der Musik überhaupt.

Zuletzt weist Muthesius darauf hin, daß diese Logik überrationalen Ur-
sprungs ist, daß das Musikschaffen also nie bis in seinen seelischen Urgrund exakt
deutbar ist, denn zu diesem hinüber vermittelt nur die Phantasie. Die Musiktheorie
kann das kritische Nachdenken bis an die Grenze dieses ursächlichen Reiches führen
und darauf hinweisen, wie der eine Sinnursprung der Kunst in alle Kunstrichtungen
befruchtend und gestaltend hineinwirkt — ein beharrendes Prinzip, das alle künstleri-
schen Abwandlungen aus sich entspringen läßt. Aber dieser Sinnursprung bleibt
immer geheimnisvoll. Der Bote, der die Grenze dieses Wunderreiches überschreitet
und die Vermittlung mit dem Sinnenreich, in unserem Falle mit dem Klangreiche
herstellt, ist der schöpferische Einfall. In ihm vollzieht sich die Befruchtung zwischen
Geist und Klang, aus der sich das Formgesetz der Musik entfaltet.
 
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