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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0279
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BESPRECHUNGEN

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eine Vermischung dieser beiden Extreme vorliegen, wobei je nachdem bald der „Da-
seinsdrang", bald der „Wahrheitsdrang" das Übergewicht hat. Der tiefste und nie
ganz erfüllbare Drang aber, der allem Sichselbstverstehen zugrunde liegt, und frei-
lich immer nur zu asymptotischer Annäherung an die Wahrheit führen kann, besteht
in dem Streben, das innerste Selbst, den Seelengrund mit dem Absoluten, mit dem
Gesollten, mit dem Sein in Einklang zu bringen. Und hier stellt G. Sprüche wie
„Werde der du bist", „Mensch werde wesentlich", ja die Lehre vom „Gott in uns"
und vom Übermenschen mit der Lehre vom intelligiblen Charakter in eine Reihe.

So führt im letzten Ergebnis seine Untersuchung über das Verstehen zurück zu
einer rational-formalen Ethik, die man auch eine Ethik im leeren Räume nennen
könnte; und der eigentliche Gewinn und die Bedeutung seiner Untersuchung scheint
darin zu bestehen, daß er die Methode behutsamen Abwägens und sorgfältigen Zer-
gliederns, die uns aus Sprangers Schriften vertraut ist, aus der Kulturpsychologie
und -philosophie (was er in den ersten Abschnitten seines Buches an geisteswissen-
schaftlicher Psychologie gibt, bietet keine neuen Gesichtspunkte) auf die reinen
Sachgebiete der Ethik und Psychologie übertragen hat. Wir wollen das an seiner
Theorie vom „Totalselbstwertbild" kurz erläutern. Wilhelm Dilthey hat die Selbst-
biographie als eine besonders hohe Form des Verstehens angesehen, weil in ihr
Verstehenssubjekt und Verstehensobjekt ganz nah zusammentreffen und weil zu-
gleich das Gedächtnis den großen Vorteil hat, bereits eine Auswahl des für das
Leben Bedeutsamen an die Hand zu geben. Demgegenüber weist G. darauf hin, daß
gerade hier eine besonders schwierige Problematik des Selbstverstehens vorliegt, die
zum Beispiel beim Fremdverstehen nicht besteht. Denn Verstehenszusammenhang
und Erlebenszusammenhang sind keineswegs identisch. Das „Selbstwertgefühl" setzt
der objektiven Selbsterkenntnis insofern eine Grenze, als es vom Sein des betreffen-
den Ich immer nur so viel ins Bewußtsein dringen läßt, als dieses Ich eben zu er-
tragen vermag. Hier setzt unter anderm etwa das wichtige Phänomen der Ver-
drängung ein, und auch das Gedächtnis trifft nicht eine Auswahl des Bedeutsamen,
sondern des für die Persönlichkeit jeweils Tragbaren. Und dieses Selbstwertgefühl
gibt denjenigen Werturteilen, die das Selbstverstehen angehen, eine ganz andere
Schwere als denen, die wir im Fremdverstehen über einen anderen Menschen fällen.
Wenn ich im Fremdverstehen das Urteil „unzuverlässig" fälle, so kann dies für
mich selbst ziemlich belanglos sein; wenn ich mich aber selbst als unzuverlässig ver-
stehe, so hat das auf mein Selbstwertgefühl die nachhaltigste Wirkung. So liegt vor
jedem Sichselbstverstehen immer schon ein „Totalselbstwertbild" zugrunde, und hierin
ist nach G. eine grundlegende Verschiedenheit des Selbstverstehens vom Fremdver-
stehen zu erblicken. An dieser Stelle nun, wo er aus dem Formalen selbst ins Mate-
riale übergeht, kann man ihm den Vorwurf pragmatistischer Haltung machen; denn
es bedeutet doch wohl eine recht geringe Einschätzung dieses vor allen Verstehens-
akten in der unbewußten Anschauung vorhandenen Selbstbildes, wenn man dasselbe
nur aus seiner Notwendigkeit innerhalb des Lebenshaushaltes erklärt. — Im allgemei-
nen wird man sagen dürfen, daß die mancherlei methodischen Feinheiten die man-
gelnde Plastik und Lebensnähe dieses Buches nicht ganz aufzuwiegen vermögen;
auch ihm gelingt es nicht völlig, die Befürchtung zu entkräften, daß „Verstehen" mög-
licherweise nichts anderes bedeuten möchte als ein vorsichtiges Ausweichen vor den
entscheidenden Daseinsfragen, die sich jede Ethik und Psychologie vorlegen muß,
wenn sie nicht reine unverbindliche Theorie bleiben will.

Waterloo (Canada). Hans Rabow.
 
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