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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0299
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BESPRECHUNGEN

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sehen Tragödie — um mehr und anderes als „den nie geleugneten Schwächen Schil-
lers die nie bezweifelten Vorzüge anderer, insonderheit Shakespeares entgegen-
zurücken" (S. 332). Es geht um die Frage, was Schillers Drama als geistes-
geschichtlicher Ausdruck seiner Zeit bedeutet, um die Erkenntnis, was, auch bei
dem leidenschaftlichsten Drange, über sie hinauszuschreiten, und der schärfsten Geg-
nerstellung gegen sie, dem, der wie Schiller in seinem eigenen Sein trotz allem ihr
bis zuletzt verhaftet blieb, gegenüber der Sicht eines Shakespeare und erst recht
der antiken Dichtung versagt sein mußte.

Denn kaum jemand hat Enge und Kleinheit dieses Zeitalters schärfer gesehen
und strenger gerichtet als Schiller, der Philosoph und ästhetische Erzieher und der
Mitarbeiter Goethes. Was Schiller, dem Dichter, verschlossen war, weil seine eigene
Daseinsform in dem Boden des Jahrhunderts unablösbar verwurzelt war, hat der
Denker, dessen Blick über seine eigenen Grenzen hinauszureichen vermochte, ge-
schaut und als deutliches Bekenntnis ausgesprochen. Cysarz hebt selbst bei der Be-
sprechung von Schillers Kampf gegen Kant wie bei der der „Götter Griechenlands"
diese Gegnerstellung Schillers gegen sein Jahrhundert, ja, gegen die Gespaltenheit
der gesamten nachantiken Kultur heraus. So empfindet er mit Recht eine Art Vor-
lauf ertum Nietzsches in jenem berühmten Wort Schillers aus „Anmut und Würde":
„Womit aber hatten es die Kinder des Hauses verschuldet, daß er nur für die
Knechte sorgte?" „Seitdem das Christentum", so interpretiert Cysarz, „den ewigen
Zwist zwischen Hoch und Nieder ... in den Einzelmenschen gerückt und in jeder-
manns Seele Regierende und Regierte für immer getrennt hat, ruht jegliche Sittlich-
keit vorab auf Sklaverei und Sklavenaufstand. Auch Kants Moral schließt eine
Hälfte aller Menschenkräfte von der Selbstbestimmung, Selbstgestaltung aus. Des-
gleichen von jeder Veredlung: Die Triebe dürfen wuchern, wofern sie unschädlich
bleiben, andernfalls werden sie entweder öffentlich an der Leine geführt oder in
Kerker geworfen." Und noch stärker räumt er Schillers eindeutig antike Haltung
ein, wenn er anläßlich Stolbergs Angriff gegen die „Götter Griechenlands" zugibt:
„Schillers Ästhetik heischt von jedem Gläubigen entweder Widerlegung oder Selbst-
verteidigung" und ausfuhrt: „in die obersten Rechte der Religion bricht schon der
Anspruch der Kunst, allein den ganzen Menschen, den Menschen als Sinnen- und
Geistwesen zu erhalten, ja zu erschaffen und von diesem Doppelwesen aus, nicht
bloß von seinem geistigen Teil her, das Verhältnis des Menschen zum Jenseits zu
bestimmen" (S. 169). Aber, wenn er anderer Stelle (S. 180) demgegenüber einwendet:
„Als Abtrünniger darf Schiller schon darum nicht gelten, weil die gesamte Bewe-
gung von Luther zu ihm nach Verdiesseitigung religiöser Aspekte drängt, nach
Fleisch- und Tatwerdung übersinnlicher Dinge", so bleibt gerade die Bestimmung
offem" an welcher Stelle sich Schiller dieser „Bewegung" der „Fleisch- und Tatwer-
dung übersinnlicher Dinge" einreiht. Doch Cysarz nimmt in der im letzten Jahr-
zehnt in der deutschen Literaturwissenschaft so vielumstrittenen Frage der Stellung
der Klassik zu Antike und Christentum nicht Partei. Er will vielmehr in Schiller eine
Synthese von beiden, ja im Grunde von allen nur denkbaren Mächten der abend-
ländischen Kultur sehen. Faßt er gegen Ende seines Werks dies Ergebnis zusammen
in die Aussage: „In Schillers Werk und Wesen haben wir die christlichste Schönheit
erkannt und das Schönheit-erfüllteste Christentum; die gläubigste Bindung des deut-
schen Mittelalters, die festlichste Lösung der deutschen Renaissance; die heldischeste
und nordischeste Antike und das antikischeste Heldentum" (S. 427), so muß man
fragen, ob ein derartiges Beieinander der getrenntesten Welten überhaupt eine Syn-
these ergeben kann und ob die Übersteigerung, zu der Cysarz hier die Begeisterung
für seinen Helden verlockt, sich nicht selbst aufhebt. Ähnlich heißt es an anderer
 
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