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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Dessoir, Max: Stefan George
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0313
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STEFAN GEORGE

299

war ein Zwiespalt. Der Bau des Kopfes zeigte scharf umrissene For-
men. Aber das Mienenspiel war weich und der Blick mehr fragend als
gebietend. Im Innern stritten höchste Empfindlichkeit mit festester Härte.
George schulte sich an romanischer Wortkunst und wurde zu einem
germanisch-deutschen Dichter; er war auf Artistisches angelegt und
wurde zu einem geistigen Ahnherrn des Nationalsozialismus. Einsam
lebte er und dennoch zeitverbunden, eng im Grundgefühl und dennoch
mit weitendem inneren Reichtum angefüllt.

Georges Kunst ist im Gehalt antinomisch, in der Gestalt oft anti-
thetisch. Zwar das Ziel, das sie schließlich findet, läßt sich eindeutig be-
bestimmen: es ist die Rettung des Wesenhaften aus dem lärmenden
Fortschritt und der leeren Nützlichkeit. Indessen das Wesenhafte selber
ist nicht mehr einheitlich. Das Lied von der geeinten Zweiheit — „Ich
bin der eine und bin beide" — ist dem Dichter nicht geglückt. Seine
Welt hat zwei Pole: den männlichen, formkräftigen Geist und die
urweibliche, mütterliche Tiefe. Zur Lösung der Gegensätze ist George
nicht gelangt, nur zu ihrer strengen Abhebung. Dem Irdischen hat
er nie den Zoll geweigert, denn er blieb sich dessen bewußt, daß der
Mensch nie frei wird von der Endlichkeit. Auf der andern Seite hielt er
fest an der Herrschaft des Geistes. Das wird überall dort spürbar, wo
er die dunklen Kräfte dem Volke zuerkennt und die helle Gestaltungs-
kraft dem geistigen Menschen. Man kann hieraus die Folgerung ziehen,
daß das Leben seine Sinngebung nicht nur vom Geist, sondern auch
vom Blut her empfängt, daß der Dichter zum Vorbild auserwählt ist,
wenn in ihm Volkstum und Geistigkeit zusammenwachsen. George
selbst neigte einem andern Ergebnis zu. Wer am tiefsten für sich lebt,
so dachte er wohl, der lebt am weitesten für Volk und Menschheit. Sein
Ideal des Künstlers gleicht dem aristotelischen Gott, der, selber unbe-
wegt, alles bewegt; sein Wunschbild ist eine Kunst, die gerade da-
durch, daß sie sich fern vom Leben hält, das Leben beherrscht.

Sein und Wirken Stefan Georges war ein Paradoxon. Hierin liegt
kein Anlaß weder zum Tadel noch zur Klage. Denn eben deshalb
werden Mensch und Werk lebendig bleiben. Erinnern wir uns der
alten Weisheit: nur was in sich Gegensätze birgt, das lebt.
 
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