Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

DOI Artikel:
Ritoók, Emma von: Die Wertsphäre des Tragischen, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0340
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
326

EMMA VON RITOOK

vergleichen, so ist es leicht einzusehen, daß das philosophische wie das
künstlerische Tragische gleichberechtigte Formen der tragischen Vision
sind. Daher kann hier von solchem Gebietswiderstreit wie auf dem ästheti-
schen und ethischen Gebiet keine Rede sein. Keine Kategorie eines fremden
Wertgebietes wird in das andere Gebiet einbezogen, keines wird durch
einen wesenhaft bestimmenden Übergriff in seiner Gebietsgrenze gefähr-
det, sondern aus einer ähnlichen Schau werden zwei voneinander unab-
hängige Geistesschöpfungen objektiviert. Die ontologische Seinskategorie
des einen Gebietes wird nicht gestört durch die ästhetische des anderen,
jedes ist an sich ein vollkommen abgeschlossener Ausdruck in der eige-
nen Form. In der Philosophie wird die tragische Welt, in der
Kunst die Welt der Tragik vor uns enthüllt; in der ersten ist die
Ganzheit makrokosmisch in der Einheitsbeziehung des Tragischen erlebt,
in der zweiten wird sie im Menschlichen als Mikrokosmos konzentriert.
In den Grenzen des Einzelschicksals mit seinem unüberbrückbaren
Gegensatz von Ich und Nicht-Ich spielt sich der Zwiespalt der Persön-
lichkeit und des Fremden, der Freiheit und der Gebundenheit, des
Lebens und des Schicksals ab. So wird das Einzelschicksal zum Symbol
der unüberbrückbaren Dualität von Geist und Materie, zwischen deren
Grenzen die Gegensätze der Begrenztheit und Unendlichkeit, des Dies-
seits und Jenseits, des Seins und Werdens eingeschlossen sind. Beide
zeugen von demselben Sehen und wollen ein höheres Erkennen verkün-
den. Ein tragischer Weltvorgang eröffnet sich auch im Vorgang des
Einzeldaseins, er ist in der Tragödie verborgen aber durchfühlbar; so
führt die tragische Kunst nicht nur über die Begrenztheit des Alltags,
sondern auch über die Begrenztheit des menschlichen Lebens hinaus; sie
läßt uns in die mystische Tiefe und das Dunkel unseres gemeinschaft-
lichen menschlichen Daseins blicken und läßt im allgemein-menschlichen
Schicksal das Schicksal des ganzen kosmischen Seins ahnen.
 
Annotationen