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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Einem, Herbert von: Der Torso als Thema der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0346
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BEMERKUNGEN

Für das Mittelalter ist die Frage durchaus zu verneinen. In der Renaissance wäre an
Michelangelos fragmentereiches Werk zu denken. Es ist gewiß etwas ganz Neues,
daß uns hier das Unvollendete öfter als ein Unvollendbares erscheint, und die Schöp-
fung über den gleichsam objektiven Bildgedanken hinaus den Seelenzustand ihres
Schöpfers verrät. Aber doch ist das Fragment bei Michelangelo, wo es vorkommt,
immer Not, nie künstlerische Absicht. Immer haben auch die Bruchstücke ihre ganz
bestimmte gegenständlich besondere, nicht bloß symbolisch allgemeine Bedeutung. In
der Barockzeit wäre an die zahlreich erhaltenen Bozzetti zu erinnern, die ja in vielen
Fällen tatsächlich Torsen sind. Hier haben wir denn auch die wichtigste Vorstufe zum
Torso als selbständigem Kunstwerk. Aber es ist charakteristisch, daß die barocken
Torsi immer Bozzetti, immer Entwürfe sind, und daß man nicht auf den Gedanken
gekommen ist, den Entwurf für die Vollendung auszugeben. Auch der Barock hat den
Torso thematisch noch nicht verwertet. Ein Gleiches gilt für Klassizismus und
Romantik.

Ehe wir den Grund angeben, warum der Torso als selbständiges Kunstthema vor
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht vorkommt, fragen wir nach vergleich-
baren Erscheinungen. Den Ergänzungsversuchen in der Plastik entspricht die Un-
bekümmertheit, mit der durch Umbauten und Umdekorierungen in den Organismus
fertiger Architekturen eingegriffen wird. Es kommt hier nicht auf das Ergebnis, son-
dern allein auf die Tatsache an. Ein spätes vergleichbares Geschehen ist die Voll-
endung des Kölner Domes in der Romantik, der Glaube an die innere Möglichkeit
einer solchen nachträglichen Vollendung. Natürlich wäre es falsch, seit der Renais-
sance die große Freude an Ruinen zu übersehen. Sie findet aber — sehr charakteri-
stisch ■—■ wiederum vornehmlich in der Malerei ihren Ausdruck, wo das einzelne
Werk weniger um seiner selbst willen als versatzstückhaft in größerem landschaft-
lichen Zusammenhang nachgebildet wird. — Noch einmal darf an Thorvaldsen erin-
nert werden. Man konnte ihn nur mit Mühe davon zurückhalten, die- erhaltenen Ori-
ginalköpfe der Ägineten durch neue bessere zu ersetzen. Ihn schmerzte ein angeblicher
Zwiespalt zwischen der Schönheit und Vollendetheit der Körper und der Unbeholfen-
heit und Altertümlichkeit der Köpfe. Wieder handelt es sich hier der Absicht nach um
den Eingriff in einen fremden Organismus, freilich nicht mehr wie in früherer Zeit
aus einer unbewußten inneren Verwandtschaft und daher im Ergebnis möglich, ja
glücklich, sondern von einem abstrakten fremden Ideal her in voller Bewußtheit und
daher im Ergebnis unorganisch und unmöglich.

Der Grund für das Nichtvorkommen des selbständigen Torso in früherer Zeit
wie für die verwandten Erscheinungen liegt in der Funktion der Kunst. Solange die
Kunst an ein Außerkünstlerisches gebunden ist, mag das nun Kirche, Hof oder eine
andere geistige Macht sein, wird die Form nicht (weder vom Künstler noch vom Kunst-
betrachter aus) unabhängig von dem darzustellenden Gegenstand gesehen. Ein Pro-
blem der reinen Form gibt es nicht. Auch der Ausdruck wird allein durch den Gegen-
stand bedingt und verbleibt innerhalb der Sphäre des Gegenständlichen. Die sub-
jektive, augenblickliche oder bleibende Gemütsverfassung des Künstlers spielt gar
keine Rolle. Im Mittelalter, wo der Funktionscharakter der Kunst am stärksten ist,
ist das am deutlichsten. Gegenständlichkeit und Objektivität sind die auszeichnenden
Merkmale seiner Kunst. In der Folgezeit verschiebt sich mit der gradweisen Ver-
selbständigung der Kunst auch der Schwerpunkt immer mehr vom Objektiven zum
Subjektiven. Es ist aber lehrreich, wie weit noch bis in das 19. Jahrhundert hinein,
zu einer Zeit also, in der die alten natürlichen Bindungen der Kunst längst gelöst und
die Eigengesetzlichkeit der Kunst theoretisch längst erklärt worden war, die ur-
sprüngliche Wertung des Gegenständlichen noch lebendig bleibt. Diese selbstver-
 
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