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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Blumenthal, Hermann T.: Karl Philipp Moritz und Goethes "Werther"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0045
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KARL PHILIPP MORITZ UND GOETHES „WERTHER" 31

müssen wir Lebensstimmung und Lebensverständnis der beiden Werke
miteinander vergleichen5).

Moritz-Reiser6) wird durch die pietistische Erziehung im Geiste der
Madame Guyon schon in frühester Kindheit zu einem ständigen Nach-
denken über sich selbst, zu immer wiederholter Bewußtmachung der eige-
nen Sündhaftigkeit und zur Ertötung alles natürlichen Wollens und Wün-
schens angehalten. Wenn er diese Einflüsse auch schon bald aus Wider-
stand gegen die häusliche Misere ihrem sachlichen Gehalt nach abstreifte
— die Form pietistischer Gewissenserforschung blieb als säkulare
psychologische Selbstanalyse bei ihm erhalten. Vielleicht ist bei ihm jener
von Dilthey gekennzeichnete Übergang von der pietistischen Technik der
Seelenbehandlung zur modernen Erfahrungspsychologie am allersichtbar-
sten7), deutlicher als etwa bei Hamann, Lavater und Jung-Stilling, bei
denen die Selbstbetrachtung die religiöse Ausrichtung nie verloren hat.
Das Erschütternde an diesem Vorgang ist bei Moritz, daß er nicht bloß
der sachlich vollziehende Betrachter dieses Prozesses war, sondern zu-
gleich das Objekt der Analyse, und der von ihm geleistete Fortschritt im
Selbstverstehen des modernen Menschen mit seinem Lebensglück bezahlt

5) Den Einwand, daß man den ausdrücklich als Autobiographie gemeinten
Roman mit dem von vornherein als Kunstwerk entworfenen Werther nicht auf eine
Ebene stellen könne, vermag ich nicht gelten zu lassen. Einmal werden hier die
künstlerischen Qualitäten beider Werke nicht in den Blick genommen und nicht ver-
glichen. Sodann ist Werther die unverhohlene Aussprache einer ureigenen Lebens-
möglichkeit Goethes, zu deren Formung er, wie wir wissen, eigene Briefe benutzt
hat. Doch würde auch so sein Zeugniswert für die Seelengeschichte seiner Zeit dem
des Reiser gleichkommen. Daß für Goethes Entwicklung die künstlerische Gestaltung
zugleich distanzierende Überwindung dieser Möglichkeit war, ist zwar von fun-
damentaler Bedeutung für die Geschichte Goethes wie die Geistesgeschichte des
18. Jahrhunderts, fügt aber dem Quellenwert für die damalige, im Werther ge-
schilderte Situation nichts hinzu.

6) Über Moritzens Lebensgang und seine innere Entwicklung s. Hugo Eybisch:
Anton Reiser. Leipzig 1909 (Probefahrten. 14.), das Buch, das die Grundlage der
gesamten Moritz-Forschung auch heute noch ist und immer bleiben wird. Über die
Einflüsse des Pietismus s.UVlartin Eckardt: Der Einfluß der Madame Guyon auf
die norddeutsche Laienwelt des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Köln 1928.

7) Dazu s. bes. Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie.
2. Aufl. Bd. 1. 1902. S. 283 ff., 291 ff. u. ö. Wie weit sich schon bei Moritz diese
Psychologie von ihrem Ursprung entfernte, ohne freilich ihre Herkunft zu ver-
gessen, zeigt drastisch die Tatsache, daß er es fertigbrachte, in seinem „Magazin
für Erfahrungsseelenkunde", die seelsorgerischen Briefe des Herrn von Fleischbein
an Moritzens Vater, der von ihm im Geiste der Madame Guyon unterwiesen wurde,
als „für den Psychologen in mehr als einer Rücksicht interessant" abzudrucken
(s. Mag. VIII, 1 S. 71 ff., VII, 3, S. 53 ff.). Dort figuriert auch ein Stück aus der
Autobiographie der Guyon als „Beispiel einer Selbsttäuschung" (VII, 3, S. 83 ff.)-
 
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