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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Blumenthal, Hermann T.: Karl Philipp Moritz und Goethes "Werther"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0042
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Karl Philipp Moritz und Goethes „Werther"

Von

Hermann Blumenthal*)

„Schon früher hatte ich die Ehre
erlebt, daß geistreiche, nachspürende
Männer meine Gedichte zu entwickeln
sich bestrebten; ich nenne Moritz
und Delbrück, welche beide in das
Angedeutete, Verschwiegene, Geheim-
nisvolle dergestalt eindrangen, daß sie
mich selbst in Verwunderung setzten."

Goethe.

I.

Unter den mannigfachen Zeugnissen, die uns über die epochale Wirkung
von Goethes Werther aufbehalten sind, kommt dem Bericht von Karl
Philipp Moritz in seinem „Anton Reiser" (S. 247—260)x) eine besondere
Bedeutung zu. Während sonst die empfindsamen Generationsgenossen,
die sich im Werther als im Spiegel ihres Daseins wiedererkannten, ihr
Einverständnis in dumpfen Gefühlsausbrüchen oder sentimentalen Ergüs-
sen bekundeten, wie sie uns von Heinse, Bürger, den Stolbergs, Voss über-
liefert sind, muß bei Moritz diese existentielle Betroffenheit alsbald zum
klaren Bewußtsein ihrer selbst gekommen sein. Wohl hat man mit Recht
dagegen eingewandt2), daß diese Schilderung, die gute zehn Jahre später
entstand, dadurch an Quellenwert für die geschilderte Zeit verliere. Allein
abgesehen davon, daß Moritzens Schulgenosse Iffland, der diese Zeit mit
ihm durchlebte, die Treue gerade dieser Stellen verbürgt: die unjugend-
liche Bewußtheit, die den Bericht scheinbar so fragwürdig macht, ist, wie
uns scheinen will, keineswegs ein Erzeugnis erinnernder Rückschau. Sie
entspringt der durch pietistische Bußübungen hochgezüchteten Reflek-
tiertheit, die alle Erlebnisse des jungen Reiser von Kindheit an begleitet
und die eine Seite seines Schicksals ausmacht.

* Der Aufsatz entstammt einer ungedruckten Fes+schrift, die Herrn Prof.
Petsch - Hamburg zu seinem 60. Geburtstage am 4. Juni 1934 von Freunden und
Schülern überreicht wurde.

x) Der Reiser wird zitiert nach dem Neudruck von Ludwig Geiger = Deutsche
Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. 23. Heilbronn 1836.

2) S. Fritz Brüggemann: Die Ironie als entwicklungsgeschichtliches Moment.
Jena 1909. S. 135 f.
 
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