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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0211
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BESPRECHUNGEN

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bildhaften Erstarrung" (S. 61) „dient häufig psychologischen Zwecken", ist eine
Art „experimenteller Situationspsychologie", und das ist so deutlich, daß die Ro-
mandichter mitunter selbst auf die Ähnlichkeit ihrer erstarrten Situationen mit
bildhaften Darstellungen (etwa von Hogarth, Greuze, Chodowiecki) hinweisen.
Ferner findet L. in der auch im Roman beliebten Form der Parallelenziehung
(Charaktervergleich, Situationsvergleich) „Begriff und Eigenart dem Gesichtssinn,
und zwar seiner mathematisch schärfsten und klarsten Form, der Geometrie, ent-
nommen" (S. 71). Weiterhin hat L. etwas tatsächlich Bemerkenswertes in seinen
Romanen beobachtet: „Sehr häufig weist schon die äußere Form des Gesprächs ...
auf die Nähe des Schauspiels hin. Oft... sind Regiebemerkungen beigefügt, die
den Bühnenanweisungen des Theaterstücks entsprechen und eingeklammert oder auch
in kleinerem Druck geboten werden" (S. 84). Dieser Übergang in die für das 18. Jh.
durch ihre „Anschaulichkeit" besonders „typische Dichtungsgattung" zeigt in L.s
Sinne wieder die stark optische Orientierung der Romandichter dieser Zeit. End-
lich „ist die Beziehung besonders zwischen Illustration und Roman eine denkbar
enge" (S. 89); die Hauptmasse des Kupferstichs, im Roman und im Kalender, will
„moralistisch-zweckhafte Menschenkenntnis lehren", „es besteht der Brauch, zu
bereits erschienenen Dichtungen, besonders auch zu Romanen, Kupferfolgen nach-
zuliefern. Die Beliebtheit dieser Sitte ist charakteristisch: in der Kette von Bildchen
bot man gleichsam den Extrakt der Dichtung nochmals dar... Die Struktur vor
allem des Romans als Bilderkette wird durch diese Gewohnheit bestätigt" (S. 92 f.).

Solche Feststellungen über gewisse Eigentümlichkeiten der von L. behandelten
Romane sind gewiß von Wert; daß ein stark visueller Grundzug in manchem
zutage tritt und daß solche Erkenntnis nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung
der deutschen Literaturgeschichte des 18. Jh. ist, mußte gewiß einmal hervorgehoben
werden. Nur tritt freilich auch hier schon bedenklich die Neigung des Verf. zutage,
nicht haltbare Deutungen den offensichtlich richtigen hinzuzufügen. Die Parallelen-
ziehung als schriftstellerisches Kunstmittel hat doch gewiß gar nichts mit Visuellem
zu tun („Sechs Monate drauf", so erzählt Mercks Held Herr Oheim aus seiner
Schulzeit, „stellte ich eine öffentliche Vergleichung zwischen Cäsar und Alexander
an" — wer außer L. würde auf den Gedanken kommen, daß der Schüler oder sein
Schöpfer dabei eine visuelle Vorstellung der beiden großen Männer gehabt habe?).
Und jenes Verfahren, an die Stelle epischer Erzählung und Mitteilung von Dialo-
gen beteiligter Personen mit eingeschobenem „sagte er" oder dgl. gelegentlich die
Form der Dramendrucke treten zu lassen — was hat es mit einer visuellen Vor-
stellung des betr. Abschnittes zu tun? So weit ich sehen kann, sind es gewöhnlich
bloße Dialogfolgen ohne szenische Bemerkungen, und wenn wie in der S. 85 f.
mitgeteilten Unterhaltung zwischen Frank und Wild aus dem „Leben eines Lüder-
lichen" von Bretzner (der übrigens in allererster Reihe Lustspieldichter war und
dem daher solche formale Vermischung der Gattungen besonders nahe lag) wirk-
lich „szenische Bemerkungen" wie in Theatertexten eingeschoben sind, ist die Zahl
der aufs Akustische gehenden Anweisungen mindestens so groß wie die der Be-
merkungen visueller Natur. Aber vor allem: es ist nicht richtig, daß das bürger-
liche Theater im 18. Jh. in erster Reihe auf den Gesichtssinn, auf die Schaulust
berechnet war — im Gegenteil: gerade die Zurückdrängung der Schaulust und
die Hervorhebung der Notwendigkeit der „guten Aussprache" sind es in erster
Reihe, die das rationalistische Theater vom Barocktheater unterscheiden. —

Der Verf. begnügt sich nun aber nicht mit der immerhin wohl zum Teil ge-
lungenen Feststellung: im deutschen Roman des 18. Jh. ist eine starke Hervor-
hebung des visuellen Moments zu erkennen, er will löblicher Weise auch den Grund
dieser Erscheinung ermitteln, und er glaubt ihn auf geistesgeschichtlichem Gebiet
 
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