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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0306
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Haupthelden, sondern alle Gestalten, die im Drama einen eigenen Kräftekern be-
sitzen, während fortbleibt, was nur technischen Gründen sein Dasein verdankt.

In den einzelnen Kapiteln wird nun jedes Drama auf sein Menschentum hin
analysiert. Vieles ist da gut gesehen und treffend formuliert (z. B. Sappho, Libussa),
anderes überzeugt weniger (Ein treuer Diener). Nicht selten spürt man, wie der
Verf. in eine bestimmte Richtung drängt. Er hätte ruhig etwas weitherziger und
weitschauender sein können, ohne daß die Berechtigung seiner Fragestellung und
die Richtigkeit seiner Hauptergebnisse gelitten hätte. Zu diesen Ergebnissen ge-
hört: man darf und muß von einem einheitlichen Menschentypus in den Dramen
sprechen. Grillparzers Mensch sieht sich erwachend aus der Geborgenheit heraus-
gestoßen und mit der Verantwortung der eigenen Lebensführung belastet. Sein
immanentes Schicksal, seine seelische Schuld liegt in der Unentschlossenheit. Er
weicht vor der Tat aus oder entscheidet sich zu spät, notwendig geht das Leben
über ihn hinweg. Der Verf. konstruiert sogar ein Schema für diesen Weg des
Menschen, der in der Vernichtung, nicht in der Resignation endet. Der Schluß stellt
die Grillparzersche Tragik gegen die Hebbelsche und betont, daß es ein Grill-
parzersches Drama „in demselben Sinne gibt, wie es ein Schillersches und ein
Kleistsches Drama gibt": als Drama des „metaphysisch und existentiell gespaltenen
Menschen". Damit ist aber der Verf. zu weit gegangen. Nicht mit der These, daß
es ein Grillparzersches Drama gibt, sondern daß er die Bestimmung dafür nur
mit seinen Ergebnissen auffüllt, d. h. nur von den Gestalten her. Prinzipiell ist zu
sagen, daß die Analyse der Gestalten da am fruchtbarsten ist, wo sie in sich
geschlossen, autonom und Mittelpunkte des Ganzen sind. Wir haben einsehen ge-
lernt, daß diese Voraussetzung nicht überall zutrifft, haben es sehen gelernt an
der Prosadichtung des 16. Jahrhunderts (Lugowski), aber auch an Shakespeare
(vgl. die Untersuchungen von Stoll) und werden es noch stärker an der Barock-
dichtung sehen lernen. Nun schafft gewiß Grillparzer in einer Zeit, zu deren Lebens-
voraussetzungen die Vorstellung von autonomen Individuen mit eigenem Kräfte-
kern gehört, was nun auch zu einem anderen Menschenbild in der Dichtung führt.
Und gewiß kann der Verf. Grillparzers Menschenauffassung „als Beitrag zum
Problem des abendländischen Individualismus" bezeichnen. Aber er packt doch
mit der Beschränkung auf das menschliche Verhalten nur einen Teil des Grill-
parzerschen Dramas. Gerade in den Gestalten, die er als Ausnahmen zu seinem
Schema gelten lassen muß, in den „Geretteten" wie Rudolf, Leon (warum wird es
für Rustan nicht deutlicher zugegeben?) kündet sich schon ein anderes an, was
sich bei einer umfassenderen, nicht nur auf das Verhalten der Menschen gerich-
teten Analyse noch klarer enthüllen würde. Nadler hat das in dem Begriff der
barocken Verwurzelung Grillparzers zu bannen gesucht. Der Verf. hatte ein Recht
zu seiner engeren Fragestellung, und er hat sehr schöne Ergebnisse erreicht, wie
er selber weiß; er sollte sich aber auch dessen bewußt sein, daß er nicht den
Gehalt des ganzen Grillparzerschen Dramas erschöpft hat.

Jede Arbeit über Grillparzer findet heute ein erhöhtes Interesse. Eine lebhafte
Biedermeierforschung hat eingesetzt, die sich notwendigerweise um die Deutung
und Einordnung des großen österreichischen Dramatikers bemüht. Stärkste An-
regungen gingen von Bietaks Buch über das Lebensgefühl des Biedermeier aus.
Zu den schwächsten Teilen darin gehörten die Besprechungen von Grillparzers
Dramen (vgl. Jahresber. f. neuere dt. Liter., Berichtsjahr 1931). Das ist nun durch
das vorliegende Buch berichtigt worden, und so sei es auch aus diesem Grunde
willkommen geheißen.

Berlin-Nikolassee. Wolfgang Kayser.
 
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