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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 30.1936

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Del-Negro, Walter: Spätromanik und Frühgotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14193#0341
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BEMERKUNGEN

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allmählichen Befreiung vom gebundenen System — die sechsteiligen Gewölbe über
dem Quadrat halten sich bis in die Pariser Notre Dame; diese Primitivität steckt aber
auch in der zögernden Art, mit der die alte Massigkeit und Körperlichkeit überwun-
den wird. Daraus ergibt sich — höchst kennzeichnend für die Unsicherheiten einer
Anfangsphase — ein deutlicher Zwiespalt zwischen der neuen Linearität und den
alten plastischen Körperformen; die Rechnung geht eben noch nicht auf. Dieser
Zwiespalt läßt die normannischen Kirchen ästhetisch unbefriedigender erscheinen
als die gleichzeitigen etwa Burgunds; deshalb kann Frankl bemerken, daß die
Rippengewölbe, die in der Normandie allmählich an die Stelle der Flachdecken tre-
ten, nicht zur Wand passen: es bleibt eine deutliche Diskrepanz zwischen den immer
noch sehr körperlich wirkenden Wänden und dem viel stärker skelettierten, von
einem abstrakten Liniengeflecht beherrschten Gewölbe. Ähnlich ist es noch etwa in
Sens, wo nicht nur die Rippen, sondern teilweise auch die Dienste allzu schmächtig
erscheinen gegenüber den sonst noch recht wuchtigen Formen der Wände und Haupt-
pfeiler. Aber selbst in der Notre Dame ist der Zwiespalt noch da; die gotisierende
Tendenz ist zwar — in einer rückläufigen Bewegung gegenüber den Anfängen —
von der Decke aus wieder herab auf die Wandflächen vorgedrungen und hat sie zur
Gänze mit einem zarten, die robuste Körperlichkeit auflösenden Liniengespinst über-
zogen, aber die Pfeiler des Erdgeschosses erscheinen noch schwer und massig. An
einer analogen Wende steht die Fassade, im ganzen noch sehr erdenschwer, in Ein-
zelheiten wie der feingliedrigen Säulengalerie aber schon die klassische Gotik vor-
wegnehmend.

Die Primitivität der Anfänge zeigt sich auch in den räumlichen Proportionen.
Besonders Sens und Le Mans müssen auffallen durch die unverhältnismäßig große
Breite, die diesen Bauten einen gedrückteren, plumperen Zug gibt als den meisten
hochromanischen. Mögen dies auch örtliche Ausnahmen sein, wie Gall meint, so
kann doch nicht übersehen werden, daß die gotische Überhöhung erst allmählich ein-
setzt; man kann die Proportionen stetig im Sinne eines wachsenden Höhendranges
sich herausbilden sehen. (Nach C 1 a s e n: Sens 1 : l4/5, Senlis 1 : 21/4, Noyon 1 : 23/4,
Paris 1 : 24/5, Amiens 1 : 31/*)

Nach all dem könnte man sich versucht sehen, die Entwicklung von den nor-
mannischen Kirchen des 11. Jahrhunderts bis zur Hochgotik als einheitlichen, nur
durch einzelne mutationsartige Rucke gegliederten Prozeß anzunehmen. Die nor-
mannische „Romanik" erschiene dann im wesentlichen als erste Stufe der Frühgotik,
die ganze Gotik wie ein gewaltiger Zweig, der aus dem vielverästelten Baum der
französischen Romanik herauswächst und gegenüber den übrigen, früher verküm-
mernden Ästen eine besonders reiche Entfaltung bringt. So läßt denn auch Frankl
die Gotik nicht erst mit St. Denis beginnen, sondern mit der normannischen Romanik,
mit der Trinite in Caen.

In Wirklichkeit liegen aber die Dinge reichlich komplizierter. Dasselbe 12. Jahr-
hundert, das die geschilderte aufsteigende Entwicklung von der normannischen Ro-
manik zur Gotik zeigt, läßt auf der anderen Seite typische Anzeichen eines Spät-
stiles erkennen. Die wild aufgewühlte, durchaus malerisch konzipierte Fassade von
Laon gilt als das bekannteste Beispiel. Auch das Innere dieser Kirche läßt, wenn
auch viel zurückhaltender, ähnliche Tendenzen erkennen (besonders reich profilierte
Wandgliederung, Häufung der Dienste, Hemmung der Aufwärtsbewegung durch
Ringe an den Diensten, starke Licht-Schattenkontraste usw.). Auch im Dekorativen
lebt sich ein ausgesprochen malerischer Sinn aus (Kapitelle von Laon und St. Germer;
ähnlich in St. Michael-Hildesheim aus der zweiten Bauperiode). Der Chor von St.
Remi und das Querschiff von Noyon zeigen die malerische Auflösung des Raumes;
 
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