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Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst — 1.1856

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Otte, Heinrich: Die Kanzel im Dom zu Merseburg
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https://doi.org/10.11588/diglit.3677#0083
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DIE KANZEL IM DOM ZU MERSEBURG. 75

Die Ambonen der alten Kirche hatten wahrscheinlich verschiedene Formen; doch
scheint die Anbringung einer Doppeltreppe nach Osten und Westen hin, gradus ascensionis
und descensionis, typisch gewesen zu sein. In Italien haben sich noch in vielen Kirchen
Ambonen erbalten; sie kommen gewöhnlich in zwiefacher Anzahl zu beiden Seiten des Un-
lerchors symmetrisch aufgestellt vor: der eine ist zur Vorlesung des Evangeliums bestimmt
{ambo evangelii), auf dem anderen (ambo epistolae) wird die Predigt gehalten. — Der
älteste bekannte Ambo befindet sich im Dom zu Ravenna und datirt aus dem VI. Jahrb.;
als der jüngste gilt der Ambo in S. Pancrazio zu Rom mit der Jahreszahl 1249. *) —
Abgesehen von weniger wesentlichen Abweichungen stimmen die italienischen Ambonen darin
überein, dass sich auf einem länglich viereckigen Sockel auf beiden Langseiten ein Trapez
erbebt, dessen Schrägseiten die Brüstungen der Treppen bilden, und dessen mittlerer, zu-
weilen mit einer runden oder polygonen Auskragung und stets mit einem Lesepulte verse-
hener Theil den Standpunkt des Redners bezeichnet. Das Material ist Marmor; die Trapez-
fläcben sind durch Pfeiler in symmetrische Felder getheilt und musivisch verziert. —
Nach der Angabe Pelliccia's **) soll der Ambo seit dem IX. Jahrh. eine runde Form ange-
nommen haben, was durch den vom Jahre 820 datirenden Bauriss des Klosters S. Gallen
bestätigt wird; hier nämlich ist ausser zwei an der westlichen Schranke des Unterchores be-
findlichen Lesepullen mitten in dem von Schranken begrenzten östlichsten Quadrate des
Hauptschiffes freistehend ein „ambo" von kreisrunder Grundfläche eingezeichnet.

Die vorbeschriebenen alt hergebrachten Einrichtungen werden sich im Hochmittel-
alter im Wesentlichen um so mehr unverändert erhalten haben, als, ungeachtet der Be-
mühungen Karl's des Grossen und seiner nächsten Nachfolger, die Predigt des göttlichen
Wortes selten geworden war unter den neuen Völkern, welche sich auf den Trümmern des
römischen Reiches niedergelassen hatten, und man es schon für einen Gewinn hielt, wenn
in der Kathedrale monatlich zweimal und in den Pfarrkirchen bei den jährlichen Visita-
tionen des Bischofs einmal das Wort des Heils verkündigt werden konnte. Die Bischöfe
waren zu sehr von äusseren Geschäften hingenommen, und die Priester waren tbeils zu
unwissend, theils suchten sie die ihnen unbequeme Predigtlast auf die Schultern der Bi-
schöfe zurückzuwälzen. ***) Erst als sich seit dem neuen Schwünge des religiösen Lehens
im Anfange des XII. Jahrh. das Bedürfniss der Predigt in den nun hinreichend ausgebildeten
Landessprachen unter den Völkern so mächtig vernehmen Hess, dass, obschon Papst
Innocenz HL, ungeachtet der ungeheueren Menge seiner Geschäfte, selbst eifrig predigend,
dem übrigen Clerus das nachahmenswerteste Beispiel gab, dennoch die alte Organisation
der Kirche zur Befriedigung desselben nicht mehr ausreichte, trat auch eine darauf hin-
zielende Aenderung, durch die Errichtung der ersten eigentlichen Predigtstühle oder Kanzeln,
seit dem XII. Jahrh. hervor. Bisher war es der Kircbenordnung gemäss den Mönchen ver-

*) Vgl. Bekty, der Lettner der Magdalenenkirche in Troyes, in Gaiuiabaud's Denkmälern Bd. III. No. 20. (Lief. XIV).
**) De christianae eccl. politia, ed. Ritteis I, 135.
***) Neander, Kircherrgeschichte 3, 170 ff.

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