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Zöllner, Frank
Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci (Marburg, Univ., Habil.-Schr., 1995) — Marburg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.2869#0008
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EINLEITUNG

1. Subjektiver Ausdruck und objektive Darstellung

Alle Kunst sei Ausdruck (expression), ohne Ausdruck existiere keine Kunst, und Ausdruck
vermittle dem Betrachter oder Rezipienten des Kunstwerks einen Eindruck von den
Vorstellungen oder sogar der individuellen Befindlichkeit des Künstlers und verschaffe ihm
gleichzeitig einen Einblick in den 'Geist' einer Epoche. Der Ausdruck in der Kunst wäre -
so der aktuelle Diskussionsstand - eine subjektive Angelegenheit des Malers oder Bildhauers,
der eine individuelle emotionale Erfahrung vermittle, aber auch einen Schlüssel zum
Verständnis des 'Zeitgeistes' anbiete. Hauptsächlich jedoch - so die deutlichste
Formulierung - würde uns Kunst als Ausdruck des Künstlers interessieren.1 Diese vor etwa
dreißig Jahren formulierten Ansichten charakterisieren eine 'moderne', durchaus kontrovers
diskutierte Kunstauffassung, die als verspätete Reaktion auf den Expressionismus gesehen2
oder als weiterhin gültiges Paradigma problematisiert worden ist.3 Hierbei spielt der Begriff
'Ausdruck' nach wie vor eine wichtige, zugleich aber auch überraschend unscharf definierte
Rolle.4

Die aktuelle Diskussion um den Stellenwert einer mit dem Wort 'Ausdruck'
umschriebenen Eigenschaft des Kunstwerks kann hier nicht vertieft werden; sie dient als
Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung von Leonardo da Vincis praktischen und
theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Ausdruck der Gemütsbewegungen und der
Darstellung der Körperbewegungen in der bildenden Kunst. Zu Leonardos Lebzeiten war
die Verwirklichung subjektiven künstlerischen Ausdrucks weniger an der Tagesordnung, als
dies nach dem Anbruch einer 'bürgerlichen' Kunstepoche und mit der Romantik sowie
schließlich mit dem Aufkommen der nicht mehr abbildenden, abstrakten Kunst möglich und

1 Vgl. Hospers, 'Concept of Artistic Expression'; Gombrich, Meditations on a Hobby Horse. S. ix-x, 56-
57 (d. i. der Aufsatz 'Expression and Communication' von 1962) und 79-80; Wollheim, 'Correspondence and
Expression', bes. S. 61-62, und Malraux, Stimmen der Stille (1954), S. 359: 'Wir wollen das Kunstwerk als
Ausdruck dessen, der es geschaffen hat' (ich verstehe das englische 'expression' als Äquivalent für Ausdruck).

2 So Gombrich, Meditations on a Hobby Horse. S. 78-85 (d. i. 'Andre Malraux and the Crisis of
Expressionism', BM. 1954, die Rezension zu Malraux, Stimmen der Stille). S. 78 und S. x, wo er Malraux
eine 'rechts-hegelianisch' gefärbte Suche nach dem 'Weltgeist* und dessen Ausdruck vorwirft.

3 Wollheim, 'Correspondence and Expression', S. 61-62: '[...] artistic expression is invariably expression
of an internal or psychological condition [...]'. - Ebd., S. 65-66, finden sich auch weitere Hinweise zu dieser
Debatte zwischen Richard Wollheim, Nelson Goodman und Ernst H. Gombrich.

4 Zum Definitionsproblem siehe etwa Arnheim, Psvchology of Art. S. 51 (d. i. der Aufsatz 'The Gestalt
Theory of Expression' von 1949) und Wollheim, 'Correspondence and Expression', S. 61: '[...] I am not
confident that expression [... ] is one of those concepts of which we have such a strong pre-theoretical grasp that
[...] it can be assessed by seeing how far it fits and explains what we originally took expression to be.'

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