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Zöllner, Frank
Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci (Marburg, Univ., Habil.-Schr., 1995) — Marburg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.2869#0046
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II. DIE KORPERBEWEGUNGEN UND DER AUSDRUCK
VON GEMÜTSBEWEGUNGEN

1. Maß und Bewegung

Das Studium der Bewegungen des menschlichen Körpers und deren möglichst naturgetreue
Darstellungen gehörten zu den grundlegenden formalen Bestandteilen der bildenden Kunst
des Quattrocento. Hierbei hat vor allem Leonardo da Vinci einen Zusammenhang zwischen
den Bewegungen und den meßbaren Dimensionen des Körpers zu erforschen versucht, und
in den Epochen nach ihm ist dieser Zusammenhang entweder explizit oder implizit - bis zum
Bruch mit dem Nachahmungsprinzip in der Kunst - ein zentraler Gegenstand der
künstlerischen Ausbildung gewesen. Allerdings galt die Aufmerksamkeit sowohl der
Literaten, Künstler und Theoretiker des 15. Jahrhunderts als auch der
kunstwissenschaftlichen Forschung intensiver dem Maß, seinem Studium und seiner
theoretischen Bedeutung als den Bewegungen und ihrer Darstellung. Diese
Betrachtungsweise hat eine lange Tradition, denn tatsächlich ist die künstlerische
Verwendung eines bestimmten Maßes für babylonisch-syrische Götzenbildner, die alten
Ägypter, das gesamte Altertum und das Mittelalter überliefert.1 Verglichen mit dem
literarisch häufig bezeugten Gebrauch von Proportionsregeln in beinahe allen Epochen
scheint sich das Problem der Bewegungsdarstellung zumindest auf theoretischer Ebene weit
weniger gestellt zu haben. Ein Grund hierfür wird sich bei der Analyse von Albertis De
statua zeigen: Die Regelhaftigkeit und Rationalität der Vermessung, mit der auch die
bildende Kunst - so Philostratos der Ältere - am logos2 und damit an einem höher bewerteten
Gegenstand menschlicher Aktivität teilhat, ist an der statischen Figur einfacher zu studieren
als an der bewegten.

Erste nennenswerte Angaben zur bewegten Figur finden sich bei Cennino Cennini,
der die Möglichkeit andeutet, mit dem Naturabguß beliebige Stellungen (atti) zu simulieren.3
Die früheste nachantike Thematisierung einer Technik, die auch der Herstellung bewegter
Figuren in der Kunst dienen konnte, ergab sich also nicht aus dem Maß und seiner
Idealisierung, sondern im Zusammenhang des Naturstudiums und dadurch aus einer
künstlerischen Praxis, deren Technik zwar erlernbar war, deren künstlerische Umsetzung
jedoch von einer technisch-rational nicht mehr faßbaren Qualität des individuellen Künstlers
abhing. Tatsächlich versteht Cennini das Studium nach der Natur als eine Angelegenheit,
die unmittelbar mit der Einfühlsamkeit des Künstlers zusammenhängt. Gegenüber anderen

1 Panofsky, 'Proportionslehre'.

2 Philostratos, Eikones. 1.1 (294K).

3 Cennino Cennini, II libro dell'arte. Kap. 185-186.

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