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Zöllner, Frank
Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci (Marburg, Univ., Habil.-Schr., 1995) — Marburg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.2869#0088
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IV. ANGEMESSENHEIT STATT MASS

1. Zum Begriff des Dekorum

Der Begriff decor (ital. decoro) ist vor allem durch seine Verwendung in der antiken
Rhetorik, Poetik1 und Architekturtheorie bekannt geworden.2 Er bezeichnet die
angemessene Komposition einzelner Elemente in einem zusammengesetzten Ganzen - sei es
in Gebäuden, literarischen Schöpfungen oder Werken der bildenden Kunst.3 Die
Anwendung des Begriffs decor auf sehr unterschiedliche Bereiche hat allerdings zu einer
gewissen Bedeutungsvielfalt geführt. So taucht er sowohl in der Antike als auch im
Mittelalter als Synonym für Schönheit schlechthin auf; eine Konnotation von Angemessenheit
und Würde scheint aber immer mitzuschwingen, da decor häufig in der Erläuterung
ethischer Zusammenhänge erscheint. Alberti, der in De pictura sehr ausführlich von der
Angemessenheit in der Malerei handelt, verwendet den Begriff möglicherweise aufgrund
dieser Bedeutungsvielfalt nicht (so wie er zum Beispiel auch Vitruvs symmetria verschmähte
und an dessen Stelle concinnitas setzte).4 Der erste Kunsttheoretiker überhaupt, der decoro
ausführlich und im Sinne einer angemessenen Bildgestaltung benutzte, war Leonardo.

Die überraschend späte kunsttheoretische Entwicklung des Begriffs decoro hängt
damit zusammen, daß die angemessene und damit 'richtige' Bildgestaltung bis weit in das 15.
Jahrhundert fast ausschließlich durch die Muster der Ikonographie garantiert wurde. Hinzu
kamen normative Vorstellungen aus der Alltagswelt, die sich heute nur noch aus didaktischen
Schriften, Tanzmanualen, Gebetbüchern und Kleiderordnungen rekonstruieren lassen (s.u.).
Erst angesichts einer zunehmend innovativen Kunstproduktion wurde auch die
Problematisierung der unter dem Begriff decoro subsumierten Angemessenheit bildnerischer
Darstellungen relevant - etwa wenn im Cinquecento intensiver von der Angemessenheit die
Rede war als im Quattrocento. Im einzelnen resultierte diese Zunahme der Diskussion des
Dekorums einerseits aus der quantitativen Zunahme der Kunsttheorie - es wurde mehr
geschrieben und daher auch mehr kritisiert; andererseits hatte die künstlerische
Gestaltungsfreiheit mit dem Manierismus und mit einer Persönlichkeit wie Michelangelo

1 Cicero, Orator. 20.70 und 21.71-22.74; Quintilian, Institutio oratoria. 11.3.68-70; Horaz, Ars poetica,
153-178. - Rhetorica ad Herennium. 4.6. - Vgl. Walter, Geschichte der Ästhetik im Altertum. S. 45-46.

2 Vgl. Horn-Oncken, Über das Schickliche, und Vitruv, De architectura, 1.2.1. und 1.2.5.

3 Battaglia, Dizionario. IV, S. 96; Horn-Oncken, Über das Schickliche, bes. S. 78-79; Oxford Latin
Dictionarv. S. 493. Siehe auch Blunt, Artistic Theorv, S. 35-36 und 122-126, und Shearman, Mannerism. S.
165-170.

4 Dieser Umstand wird häufig übersehen, so bei Lee, "Ut pictura poesis". S. 34-41, und Michels,
Bewegung zwischen Ethos und Pathos, S. 29-39.

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