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Zöllner, Frank
Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci (Marburg, Univ., Habil.-Schr., 1995) — Marburg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.2869#0111
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V. LEONARDOS BEWEGUNGSSTUDIEN II

1. Die zweite Phase

Der deutlichste Einschnitt in den Bewegungsstudien Leonardos fällt etwa in das Jahr 1500.
Die hauptsächlichen Charakteristika der zweiten, nach diesem Jahr zu datierenden Phase von
Leonardos Bewegungsstudien sind eine mehrfache Wiederaufnahme bereits früher behandelter
Themen (z.B. der Muskelbewegungen oder der verschiedenen Stellungen), eine quantitative
Steigerung der Studien zu den Bewegungen ganzer Figuren und einzelner Muskeln, eine
größere Betonung der Bedeutung des Gleichgewichts unter dem ausdrücklich genannten
Gesichtspunkt der Schwerkraft, eine generelle Vorliebe für kraftvolle und dynamische
Figuren, eine deutliche Relativierung seiner Ansichten hinsichtlich der Vermeßbarkeit von
Bewegung sowie eine weitergehende Differenzierung in der Analyse komplexer
Bewegungsabläufe.

Bereits auf den ersten Blick läßt sich ab 1500 eine veränderte Auffassung der
figürlichen Dynamik bei Leonardo erkennen. Während in den frühen Zeichnungen die
Figuren relativ wenig Volumen haben und mit langen umfassenden Strichen skizziert sind,
tauchen nach 1500 zahlreiche Blätter auf, die eine größere Konzentration in der
Strichführung, mehr Plastizität sowie eine insgesamt energischere Ausstrahlung aufweisen.1
Mit dieser Zunahme der Plastizität korrespondiert Leonardos verstärktes Interesse an den
Muskeln, an ihrer Dynamik und ihren veränderlichen Proportionen unter dem Gesichtspunkt
der Bewegung. Tatsächlich stammt der größte Teil seiner Bemerkungen zur Muskulatur,
zu deren Bewegungen und zu deren angemessener Gestaltung aus den Jahren nach 1500.2
Später, etwa nach 1508 im Libro A und in den Anatomiestudien seit der zweiten Florentiner
Periode bis zur römischen Zeit ab 1513, verselbständigt sich sein wissenschaftliches
Interesse am Muskelapparat soweit, daß von einem Einfluß dieser Studien auf einzelne
künstlerische Werke Leonardos ab 1506 (also nach der Aufgabe der Arbeiten an der
Anghiarischlacht) kaum mehr die Rede sein kann.3 Dasselbe gilt für die zusammen mit der
Muskelanatomie entstandenen Studien zum Knochenbau. Hierbei erreichen seine
anatomischen Zeichnungen eine künstlerische und technische Perfektion, die sie in unseren

1 Vgl. z.B. Popham, Drawings of Leonardo. Nr. 10-17, 27-29, 39-52 (vor 1500) und Nr. 197, 205-206,
208-211 und 230 sowie K/P 46v, 47r, 74r (W. 19043v, 19044r, 19032v, alle nach 1500).

2 TPL 329-331, 334-338, 339, 341-344 (alle ca. 1500-1505); TPL 333a und 353 (Libro A, 14 und 20 von
ca. 1508-1510). Eine Ausnahme hiervon ist Ms. B, 3v (von ca. 1487).

3 K/P 134r-151v (W. 19O00r-19017v), das sogenannte anatomische Manuskript A von 1509-1510; K/P
153v-161v (W. 19060r-19068v), das anatomische Manuskript CI, 1509-1510; 1513 folgte das fragmentarische
anatomische Manuskript CH, K/P 162r-183v (W. 19071 r-19093v). Vgl. auch Esche, Leonardo. Das
anatomische Werk, und O'Malley/ Saunders, Leonardo on the Human Body.

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