3.8 Entartete Kunst
Dresden, Lichthof des Neuen Rathauses,
23. September bis 18. Oktober 1933
Auch über die wichtigste Vorläuferausstellung, seit Raves Publikation unter dem irrigen Namen »Spiegelbilder
des Verfalls in der Kunst«1 geläufig, waren bisher nur wenige Einzelheiten bekannt. Erstmalig soll hier eine detail-
lierte Rekonstruktion und Analyse dieser Schau versucht werden. Dabei werden im einzelnen ihre Vor- und Ent-
stehungsgeschichte, ihre vierjährige Tournee durch mindestens zwölf Städte (Abb. 2) sowie ihre Inszenierung
und Rezeption zu untersuchen sein. Schließlich gilt es, die Bedeutung der Dresdner Femeschau als konkretes
namensstiftendes Vorbild und als Bestandteil der Münchner Ausstellung »Entartete Kunst« von 1937 herauszu-
stellen.
In den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war Dresden ein Zentrum der aktuellen Kunstentwicklung.2 3
Das betraf die bildenden Künste ebenso wie die Musik, Dichtung, Bühnen- und Filmkunst. Neben bedeutenden
kunsthistorischen Sammlungen besaß die sächsische Metropole eine Kunstgewerbeschule und eine Kunstakade-
mie sowie Galerien, deren einflußreiche Ausstellungen entscheidend zur Verbreitung der internationalen Avant-
garde beitrugen. Hier sind in erster Linie die alteingesessenen Galerien Emil Richter und Emst Arnold, aber auch
die Galerie Neue Kunst Fides von Rudolf Probst, der Sächsische Kunstverein, die Künstlervereinigung und die
Kunstgenossenschaft zu nennen. Die Galerie Arnold präsentierte regelmäßig Werke der 1905 in Löbtau bei Dres-
den gegründeten expressionistischen Künstlergemeinschaft »Die Brücke«, 1912 eine große Einzelausstellung Vin-
cent van Goghs sowie 1919 die Schau »Der Sturm -Expressionisten, Futuristen, Kubisten«, in der auch Picasso,
Leger, Chagall, Kandinsky und andere Moderne vertreten waren. Auch die 1909 ins Leben gerufene progressive
»Künstlervereinigung Dresden (Secession)« bereicherte das Ausstellungsprogramm.
Während bis zum Ersten Weltkrieg die Spätimpressionisten - vertreten durch die populären Akademieprofesso-
ren Otto Gussmann, Gotthardt Kuehl und Robert Sterl - dominierten, führte in den Jahren nach 1918 und in
der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine junge Künstlergeneration die Dresdner Kunstszene zu einer neuen ein-
drucksvolle Blüte. 1919 wurde der junge Kokoschka als Lehrer an die Kunstakademie berufen und im selben Jahr
zum Ehrenvorsitzenden der von Conrad Felixmüller und dem Architekten und Publizisten Hugo Zehder gegrün-
deten »Dresdner Sezession Gruppe I9i9«3 ernannt. Ihr gehörten Peter August Böckstiegel, Otto Dix, Gela For-
ster, Wilhelm Heckrott, Otto Lange, Constantin von Mitschke-Collande, Otto Schubert und Lasar Segall an.
1920 traten Walter Jacob und die Bildhauer Christoph Voll, Eugen Hoffmann und Ludwig Godenschweg hinzu,
1922 Otto Griebel. Die meisten Mitglieder der bis 1925 bestehenden Gruppe waren Studenten der Kunstakade-
mie oder der Kunstgewerbeschule. 1928 schlossen sich einige ehemalige Angehörige der Gruppe 1919, wie Grie-
bel und Hoffmann, mit Hans Grundig, Wilhelm Lachnit u. a. zur Dresdner Ortsgruppe der »Assoziation Revolu-
1 Der erstmals 1949 von Rave in Anlehnung an die Überschrift des Artikels von Richard Müller im Dresdener Anzeiger vom 23.
September 1933 verwandte Ausstellungstitel wurde in der Literatur bis in die jüngste Zeit übernommen. Die Erklärung hierfür
liegt wohl darin, daß Müllers Artikel in späteren Untersuchungen zur NS-Kunstpolitik mehrfach nachgedruckt wurde. Der rich-
tige Name, »Entartete Kunst«, ist, wie zu zeigen sein wird, durch zeitgenössische Quellen, Zeitungsrezensionen, Briefe und Erin-
nerungen von Künstlern zweifelsfrei belegt.
2 Vgl. zum folgenden Galerie Remmert und Barth 1987; Hochschule der bildenden Künste Dresden 1990, S. 197-306; Lehmann
1992; Söder 1989; Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1980 und 1985; Thiele 1990.
3 Vgl. hierzu Löffler 1980 und 1989. An der Universität Tübingen bereitet Andrea Hollmann eine Dissertation über die Gruppe
vor (vgl. Kunstchronik 46, 1993, Heft 8, S. 502).
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Dresden, Lichthof des Neuen Rathauses,
23. September bis 18. Oktober 1933
Auch über die wichtigste Vorläuferausstellung, seit Raves Publikation unter dem irrigen Namen »Spiegelbilder
des Verfalls in der Kunst«1 geläufig, waren bisher nur wenige Einzelheiten bekannt. Erstmalig soll hier eine detail-
lierte Rekonstruktion und Analyse dieser Schau versucht werden. Dabei werden im einzelnen ihre Vor- und Ent-
stehungsgeschichte, ihre vierjährige Tournee durch mindestens zwölf Städte (Abb. 2) sowie ihre Inszenierung
und Rezeption zu untersuchen sein. Schließlich gilt es, die Bedeutung der Dresdner Femeschau als konkretes
namensstiftendes Vorbild und als Bestandteil der Münchner Ausstellung »Entartete Kunst« von 1937 herauszu-
stellen.
In den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war Dresden ein Zentrum der aktuellen Kunstentwicklung.2 3
Das betraf die bildenden Künste ebenso wie die Musik, Dichtung, Bühnen- und Filmkunst. Neben bedeutenden
kunsthistorischen Sammlungen besaß die sächsische Metropole eine Kunstgewerbeschule und eine Kunstakade-
mie sowie Galerien, deren einflußreiche Ausstellungen entscheidend zur Verbreitung der internationalen Avant-
garde beitrugen. Hier sind in erster Linie die alteingesessenen Galerien Emil Richter und Emst Arnold, aber auch
die Galerie Neue Kunst Fides von Rudolf Probst, der Sächsische Kunstverein, die Künstlervereinigung und die
Kunstgenossenschaft zu nennen. Die Galerie Arnold präsentierte regelmäßig Werke der 1905 in Löbtau bei Dres-
den gegründeten expressionistischen Künstlergemeinschaft »Die Brücke«, 1912 eine große Einzelausstellung Vin-
cent van Goghs sowie 1919 die Schau »Der Sturm -Expressionisten, Futuristen, Kubisten«, in der auch Picasso,
Leger, Chagall, Kandinsky und andere Moderne vertreten waren. Auch die 1909 ins Leben gerufene progressive
»Künstlervereinigung Dresden (Secession)« bereicherte das Ausstellungsprogramm.
Während bis zum Ersten Weltkrieg die Spätimpressionisten - vertreten durch die populären Akademieprofesso-
ren Otto Gussmann, Gotthardt Kuehl und Robert Sterl - dominierten, führte in den Jahren nach 1918 und in
der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine junge Künstlergeneration die Dresdner Kunstszene zu einer neuen ein-
drucksvolle Blüte. 1919 wurde der junge Kokoschka als Lehrer an die Kunstakademie berufen und im selben Jahr
zum Ehrenvorsitzenden der von Conrad Felixmüller und dem Architekten und Publizisten Hugo Zehder gegrün-
deten »Dresdner Sezession Gruppe I9i9«3 ernannt. Ihr gehörten Peter August Böckstiegel, Otto Dix, Gela For-
ster, Wilhelm Heckrott, Otto Lange, Constantin von Mitschke-Collande, Otto Schubert und Lasar Segall an.
1920 traten Walter Jacob und die Bildhauer Christoph Voll, Eugen Hoffmann und Ludwig Godenschweg hinzu,
1922 Otto Griebel. Die meisten Mitglieder der bis 1925 bestehenden Gruppe waren Studenten der Kunstakade-
mie oder der Kunstgewerbeschule. 1928 schlossen sich einige ehemalige Angehörige der Gruppe 1919, wie Grie-
bel und Hoffmann, mit Hans Grundig, Wilhelm Lachnit u. a. zur Dresdner Ortsgruppe der »Assoziation Revolu-
1 Der erstmals 1949 von Rave in Anlehnung an die Überschrift des Artikels von Richard Müller im Dresdener Anzeiger vom 23.
September 1933 verwandte Ausstellungstitel wurde in der Literatur bis in die jüngste Zeit übernommen. Die Erklärung hierfür
liegt wohl darin, daß Müllers Artikel in späteren Untersuchungen zur NS-Kunstpolitik mehrfach nachgedruckt wurde. Der rich-
tige Name, »Entartete Kunst«, ist, wie zu zeigen sein wird, durch zeitgenössische Quellen, Zeitungsrezensionen, Briefe und Erin-
nerungen von Künstlern zweifelsfrei belegt.
2 Vgl. zum folgenden Galerie Remmert und Barth 1987; Hochschule der bildenden Künste Dresden 1990, S. 197-306; Lehmann
1992; Söder 1989; Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1980 und 1985; Thiele 1990.
3 Vgl. hierzu Löffler 1980 und 1989. An der Universität Tübingen bereitet Andrea Hollmann eine Dissertation über die Gruppe
vor (vgl. Kunstchronik 46, 1993, Heft 8, S. 502).
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