1(36
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
Von Mmf Koh’iid).
meine innigstge-
liebte Freundin,
welche Ernte von
Schmerz, Wch-
mnth und stillem
Hcirmen höbe ich
in meinen Her-
zensschcnnen auf-
gespeichert , seit-
dem ich Dir zuletzt geschrieben! Ach, wenn wir Poeten auch
das gewöhnliche Wehe, das alltägliche Leid durch die schrillen
oder süßen Töne unserer Leier verscheuchen oder einlullen,
wohin sollen wir unser thränenfeuchtes Antlitz bergen, wenn der
eherne Fuß des Schicksals uns gerade an jene Stelle tritt, wo
der keusche Nerv der Muse vibrirt? Ach wahrlich, nicht zu
meinem eigenen Wohle — ziert meine Stirn der Dichtkunst
Aureole!
Ich habe Dir schon öfter geklagt, meine thenre Freundin,
wie viele Qualen, Enttäuschungen und bitteres Herzeleid mir
jene fühllosen Männer der Presse bereitet haben, denen ich die
Sprößlinge meiner Muse vertrauensvoll sende, damit sie sie in
das heißersehnte Leben der Oeffeutlichkeit einführen. Dil lvcißt
es, nur ein einziges Mal habe ich das selige Empfinden durch-
kostet, einen Tropfen meines besten Seins in das Herz meines
Volkes zu träufeln: als mein Gedicht „Rose, Rose, knick' dich
nicht" im Ritzebütteler Sonntagsblatt erschien.
An der Spitze dieses Blattes steht ein intelligenter, neid-
loser Mann, der mein ideales Streben reicht, wie die andern
Herren Redacteure, mit nichtssagenden Phrasen oder gar un-
zarten Redensarten im Briefkasten nbspciste, oder ohne jede Er-
widerung meine lieben Musenkinder irr die öde, kalte Gruft
des Papierkorbs versenkte.
Weil der Begeisterung Flammen ihnen fehlen, — versteh'«
sie nicht das Weben zarter Seelen. —
Aber was sind alle Berge der seit Jahren ans meinen
poetischen Drang gewälzten Kümmernisse gegen jene abscheuliche
Thal, deren nachzitternde Wellen noch jetzt mein ganzes Sein
umbranden, und die auch Dein mitfühlendes Freundesherz empört
aufschänmen lassen werden!
Das Mitleid preßt Dir aus des Herzens Tiefe, — Mein
Leid, das ich erzähl' in diesem Briefe. —
— — Also vorgestern am Mittag war es, — die große
Himmelslampe hing im Zenith, und ich stand vor dem Schau-
fenster der größten Modewaarenhandlnng unserer großen Stadt.
Wenn ich eine Dichterin des Realismus wäre, das himmlische
Ballkleid im Fenster mit dem entzückenden rothcn Atlasbesatz
hätte mich zu einem Poem begeistern können. Doch: Der
rechte Sänger singt von Lieb und Hoffen, — ein Kleiderstoff
ist nicht von seinen Stoffen. —
Plötzlich fuhr ich aus tiefem Nachsinnen empor. Eine neben
mir stehende Stimme trällerte vor sich hin:
Verschwunden sind die Stunden
Und so weit — weit — weit
Ist dahin der Gewinn
Der köstlichen, herrlichen Zeit — Zeit — Zeit.
Das war der Refrain eines von mir gedichteten Liedes,
das ich mit mehreren andern vor einiger Zeit einem Journale
unserer Stadt eingesandt hatte! Und w e r sang das Lied?
Ein Bursche in Lederschurz und Blouse, ein Handwerkslehrling,
nach augenscheinlich selbsterfundener Melodie. Ich erzitterte
im tiefsten Innern — mein Lied im Munde des Volkes!
Aber tvie — wie — wie — war das geschehen? hier war
ein geistiger Raub, — ein idealer, — ach, vielleicht auch ein
materieller Betrug im Spiele. Ich mußte mir Gewißheit ver-
schaffen und tvandte mich, all' meine Scheu uiederkümpfend, zu
beut jungen Menschen mit der Frage: „Woher, ich bitte Sie
inständigst, haben Sie dieses Lied?" Und all' das Leiden
vieler Prüfungstage — zusammen preßt es sich in diese Frage.
Der Bursche sah mich, mit einem Auge blinzelnd, an und
sagte in seiner volksthümlichen Art zu reden: „Det Lied? Det
Hab' ik von Meester Klunke seine Lene, — 'n schönes Lied,
nich?" — „Wer ist Meister Klunke und wer ist seine Lene?"
forschte ich in athemloser Spannung weiter. — „Mccstcr Klunke
: ist 'n Schuster und unser Nachbar, und die Lene is jefälligst
seine Dochter." — „Können Sie mich zu diesen Leuten führen?"
— „Jern, und wenn's weiter nichts einbringt als ein jutes
Wort und fünf jute Fröschen." — Ich versprach dem Burschen
das Geld, und wir schritten fürbaß. Der Prosa-Mensch, den
Mammon zu gewinnen, — Die Dichterin voll srohbcwegtem
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
Von Mmf Koh’iid).
meine innigstge-
liebte Freundin,
welche Ernte von
Schmerz, Wch-
mnth und stillem
Hcirmen höbe ich
in meinen Her-
zensschcnnen auf-
gespeichert , seit-
dem ich Dir zuletzt geschrieben! Ach, wenn wir Poeten auch
das gewöhnliche Wehe, das alltägliche Leid durch die schrillen
oder süßen Töne unserer Leier verscheuchen oder einlullen,
wohin sollen wir unser thränenfeuchtes Antlitz bergen, wenn der
eherne Fuß des Schicksals uns gerade an jene Stelle tritt, wo
der keusche Nerv der Muse vibrirt? Ach wahrlich, nicht zu
meinem eigenen Wohle — ziert meine Stirn der Dichtkunst
Aureole!
Ich habe Dir schon öfter geklagt, meine thenre Freundin,
wie viele Qualen, Enttäuschungen und bitteres Herzeleid mir
jene fühllosen Männer der Presse bereitet haben, denen ich die
Sprößlinge meiner Muse vertrauensvoll sende, damit sie sie in
das heißersehnte Leben der Oeffeutlichkeit einführen. Dil lvcißt
es, nur ein einziges Mal habe ich das selige Empfinden durch-
kostet, einen Tropfen meines besten Seins in das Herz meines
Volkes zu träufeln: als mein Gedicht „Rose, Rose, knick' dich
nicht" im Ritzebütteler Sonntagsblatt erschien.
An der Spitze dieses Blattes steht ein intelligenter, neid-
loser Mann, der mein ideales Streben reicht, wie die andern
Herren Redacteure, mit nichtssagenden Phrasen oder gar un-
zarten Redensarten im Briefkasten nbspciste, oder ohne jede Er-
widerung meine lieben Musenkinder irr die öde, kalte Gruft
des Papierkorbs versenkte.
Weil der Begeisterung Flammen ihnen fehlen, — versteh'«
sie nicht das Weben zarter Seelen. —
Aber was sind alle Berge der seit Jahren ans meinen
poetischen Drang gewälzten Kümmernisse gegen jene abscheuliche
Thal, deren nachzitternde Wellen noch jetzt mein ganzes Sein
umbranden, und die auch Dein mitfühlendes Freundesherz empört
aufschänmen lassen werden!
Das Mitleid preßt Dir aus des Herzens Tiefe, — Mein
Leid, das ich erzähl' in diesem Briefe. —
— — Also vorgestern am Mittag war es, — die große
Himmelslampe hing im Zenith, und ich stand vor dem Schau-
fenster der größten Modewaarenhandlnng unserer großen Stadt.
Wenn ich eine Dichterin des Realismus wäre, das himmlische
Ballkleid im Fenster mit dem entzückenden rothcn Atlasbesatz
hätte mich zu einem Poem begeistern können. Doch: Der
rechte Sänger singt von Lieb und Hoffen, — ein Kleiderstoff
ist nicht von seinen Stoffen. —
Plötzlich fuhr ich aus tiefem Nachsinnen empor. Eine neben
mir stehende Stimme trällerte vor sich hin:
Verschwunden sind die Stunden
Und so weit — weit — weit
Ist dahin der Gewinn
Der köstlichen, herrlichen Zeit — Zeit — Zeit.
Das war der Refrain eines von mir gedichteten Liedes,
das ich mit mehreren andern vor einiger Zeit einem Journale
unserer Stadt eingesandt hatte! Und w e r sang das Lied?
Ein Bursche in Lederschurz und Blouse, ein Handwerkslehrling,
nach augenscheinlich selbsterfundener Melodie. Ich erzitterte
im tiefsten Innern — mein Lied im Munde des Volkes!
Aber tvie — wie — wie — war das geschehen? hier war
ein geistiger Raub, — ein idealer, — ach, vielleicht auch ein
materieller Betrug im Spiele. Ich mußte mir Gewißheit ver-
schaffen und tvandte mich, all' meine Scheu uiederkümpfend, zu
beut jungen Menschen mit der Frage: „Woher, ich bitte Sie
inständigst, haben Sie dieses Lied?" Und all' das Leiden
vieler Prüfungstage — zusammen preßt es sich in diese Frage.
Der Bursche sah mich, mit einem Auge blinzelnd, an und
sagte in seiner volksthümlichen Art zu reden: „Det Lied? Det
Hab' ik von Meester Klunke seine Lene, — 'n schönes Lied,
nich?" — „Wer ist Meister Klunke und wer ist seine Lene?"
forschte ich in athemloser Spannung weiter. — „Mccstcr Klunke
: ist 'n Schuster und unser Nachbar, und die Lene is jefälligst
seine Dochter." — „Können Sie mich zu diesen Leuten führen?"
— „Jern, und wenn's weiter nichts einbringt als ein jutes
Wort und fünf jute Fröschen." — Ich versprach dem Burschen
das Geld, und wir schritten fürbaß. Der Prosa-Mensch, den
Mammon zu gewinnen, — Die Dichterin voll srohbcwegtem
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Denkwürdigkeiten einer Dichterin"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1886 - 1886
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 85.1886, Nr. 2149, S. 106
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg