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Hilgert, Markus [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft — Berlin, Heidelberg, 54.2010(2012)

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Borchmeyer, Dieter: "Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle": Das Alter als Erfüllung, Chance und Herausforderung
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https://doi.org/10.11588/diglit.16708#0222

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Kapitel 12

„Was man in der Jugend wünscht, hat man im
Alter die Fülle"

Das Alter als Erfüllung, Chance und Herausforderung

Dieter Borchmeyer

„Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle." Ein merkwürdiges
Zitat. Woher stammt es? Von wem sonst als vom späten Goethe {Dichtung und
Wahrheit 11,6). Jugend nur als Wunsch dessen, was man erst im Alter in vollem
Maße innehat? Widerspricht das aber nicht aller Erfahrung? Denken wir doch nur
an die Sexualität. Ist es hier nicht genau umgekehrt? Hat man da nicht in der Jugend
in Fülle, was man im Alter oft vergeblich wünscht? Häufen sich nicht im Alter all
die Gebrechen, die uns auf unseren Körper zurückwerfen und unseren Geist bei
seinen Höhenflügen lähmen? Steht das Alter nicht unter dem melancholischen Vor-
zeichen eines ,Nicht mehr' - eines Nicht-mehr-möglich-Seins dessen, was einem in
der Jugend reichlich geschenkt war?

Freilich: die moderne Medizin hat unsere durchschnittliche Lebensdauer um eine
vor hundert Jahren noch undenkbare Zeit verlängert, unseren Körper widerstandsfä-
higer gemacht und den Gegensatz zwischen Jugend und Alter erheblich verkleinert.
Der Poet und Mediziner Gottfried Benn - einer der großen Dichterärzte unserer
Literatur, der nicht nur neben seiner Schriftstellerei als Arzt praktiziert, sondern
auch medizinische Schriften verfasst hat, die in seiner Gesamtausgabe enthalten
sind - hat in seinem hinreißenden Vortrag Altern als Problem für Künstler (1954),
den ich als Referenztext für diesen Vortrag gewählt habe, einigermaßen ironisch
geschrieben: „Ein Römer der Kaiserzeit wurde 25 Jahre, aber ihn trug die römische
Virtus, heute erweichen Sie vor Prophylaxe und kommen vor Reihenuntersuchun-
gen kaum noch nach Hause." Und er fügt hinzu: „Die Körper sind morbider ge-
worden, aber sie leben länger." Unleugbar: „Der Körper ist morbider geworden, die
moderne Medizin weist ihn ja geradezu auf tausend Krankheiten hin, sie brechen
mit wissenschaftlicher Gewalt aus ihm hervor - nichts gegen die Ärzte, großartige
Ärzte, großartige Leute; früher bei einem Mückenstich kratzte man sich, heute kön-
nen sie Ihnen zwölf Salben verschreiben und keine nützt, aber das ist doch Leben
und Bewegung."

D. Borchmeyer (El)

Osterwaldstraße 53, 80805 München, Deutschland
E-Mail: Dieter@borchmeyer.de

M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder,

DOI 10.1007/978-3-642-16361-6J2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

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