Kapitel 16
Angriff auf das Menschenbild?
Erklärungsansprüche und Wirklichkeit
der Hirnforschung
Andreas Draguhn
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren immenses öffentliches Interesse erregt.
Dies zeigt sich an der hohen Anzahl publizierter Fachartikel, der Präsenz in popu-
lären Medien, der Verteilung staatlicher Forschungsmittel, der Gründung wissen-
schaftlicher Institutionen und der Attraktivität für junge Wissenschaftler - „Neuro-
wissenschaften" bilden einen wesentlichen Fokus der modernen Naturwissenschaf-
ten. Die Dynamik wissenschaftlicher Fachrichtungen ist komplex und keineswegs
nur von einer inner-wissenschaftlichen Logik bestimmt. Dennoch lassen sich min-
destens zwei inhaltliche Argumente anführen, die ganz rational für die intensive
Beschäftigung mit dem Gehirn sprechen:
Erstens: alle modernen Industriegesellschaften sind aufgrund der veränderten
Altersstruktur mit einer massiven Zunahme neurodegenerativer und neuropsychia-
trischer Erkrankungen konfrontiert (siehe z. B. World Health Organization (WHO)
2006). Bisher haben wir auf diese Herausforderung keine überzeugende biome-
dizinische Antwort. Die notwendige Forschung zu Prophylaxe und Fherapie von
Hirnerkrankungen ist aber ohne das „Hinterland" der allgemeinen Neurobiologie
nicht zu bewerkstelligen. Zweitens: Gegenstand der Hirnforschung sind unter An-
derem biologische Korrelate seelischer und geistiger Funktionen, einschließlich
der menschlichen Erkenntnisinstrumente selbst. Sie nimmt durch diesen selbstre-
flexiven Charakter unter den Naturwissenschaften eine Sonderrolle ein und gilt als
grundlegend für unser Menschenbild. Es ist kein Zufall, dass Studenten und junge
Wissenschaftler bei der Wahl ihrer Fachrichtung oft zwischen Physik und Hirnfor-
schung schwanken, zwei Feldern also, die ganz besonders zur Standortbestimmung
des Menschen beitragen.
Es ist offensichtlich, dass die zunehmende Naturalisierung des Menschenbildes
durch den Fortschritt der modernen Biologie auch Widerstände hervorruft. Viel-
fach werden fachübergreifende Aussagen der Biologie als naturwissenschaftlicher
Imperialismus empfunden, der unser tradiertes Selbstverständnis bedrohe. Dies
A. Draguhn (El)
Institut für Physiologie und Pathophysiologie, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg,
ImNeuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: andreas.draguhn@physiologie.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder, 261
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6 16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
Angriff auf das Menschenbild?
Erklärungsansprüche und Wirklichkeit
der Hirnforschung
Andreas Draguhn
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren immenses öffentliches Interesse erregt.
Dies zeigt sich an der hohen Anzahl publizierter Fachartikel, der Präsenz in popu-
lären Medien, der Verteilung staatlicher Forschungsmittel, der Gründung wissen-
schaftlicher Institutionen und der Attraktivität für junge Wissenschaftler - „Neuro-
wissenschaften" bilden einen wesentlichen Fokus der modernen Naturwissenschaf-
ten. Die Dynamik wissenschaftlicher Fachrichtungen ist komplex und keineswegs
nur von einer inner-wissenschaftlichen Logik bestimmt. Dennoch lassen sich min-
destens zwei inhaltliche Argumente anführen, die ganz rational für die intensive
Beschäftigung mit dem Gehirn sprechen:
Erstens: alle modernen Industriegesellschaften sind aufgrund der veränderten
Altersstruktur mit einer massiven Zunahme neurodegenerativer und neuropsychia-
trischer Erkrankungen konfrontiert (siehe z. B. World Health Organization (WHO)
2006). Bisher haben wir auf diese Herausforderung keine überzeugende biome-
dizinische Antwort. Die notwendige Forschung zu Prophylaxe und Fherapie von
Hirnerkrankungen ist aber ohne das „Hinterland" der allgemeinen Neurobiologie
nicht zu bewerkstelligen. Zweitens: Gegenstand der Hirnforschung sind unter An-
derem biologische Korrelate seelischer und geistiger Funktionen, einschließlich
der menschlichen Erkenntnisinstrumente selbst. Sie nimmt durch diesen selbstre-
flexiven Charakter unter den Naturwissenschaften eine Sonderrolle ein und gilt als
grundlegend für unser Menschenbild. Es ist kein Zufall, dass Studenten und junge
Wissenschaftler bei der Wahl ihrer Fachrichtung oft zwischen Physik und Hirnfor-
schung schwanken, zwei Feldern also, die ganz besonders zur Standortbestimmung
des Menschen beitragen.
Es ist offensichtlich, dass die zunehmende Naturalisierung des Menschenbildes
durch den Fortschritt der modernen Biologie auch Widerstände hervorruft. Viel-
fach werden fachübergreifende Aussagen der Biologie als naturwissenschaftlicher
Imperialismus empfunden, der unser tradiertes Selbstverständnis bedrohe. Dies
A. Draguhn (El)
Institut für Physiologie und Pathophysiologie, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg,
ImNeuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: andreas.draguhn@physiologie.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder, 261
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6 16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012