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Hilgert, Markus [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft — Berlin, Heidelberg, 54.2010(2012)

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Draguhn, Andreas: Angriff auf das Menschenbild? Erklärungsansprüche und Wirklichkeit der Hirnforschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.16708#0279

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262

A. Draguhn

gilt auch für die Hirnforschung, besonders dort, wo Hirnforscher öffentlich eine
Neubewertung unseres Menschenbildes im Lichte der neuesten naturwissenschaft-
lichen Erkenntnisse einfordern (z. B. Singer und Metzinger 2002). Im Kern reibt
sich die Debatte an der Aussage, unser Selbstverständnis als fühlende, denkende
und handelnde Subjekte sei ein reines Epiphänomen von Hirnfunktionen, während
die „eigentliche" kausale Erklärung des Geistigen aus der Neurobiologie komme.
Nach dieser Argumentation sind wir lediglich besonders komplexe biologische Ma-
schinen. Unsere Würde als Menschen beziehen wir also nicht mehr aus der Auto-
nomie des Handelns (Pico della Mirandola, 1496), unser Rechtsverständnis kann
sich nicht mehr auf den Kantischen Begriff der Freiheit beziehen, nach dem wir uns
als Vernunftwesen ungeachtet der Naturkausalität zum Guten entscheiden können
(Pauen und Roth 2008). Gerade die Diskussion um die Willensfreiheit hat deutlich
gemacht, dass die Geltungsansprüche der Hirnforschung vielfach als Usurpierung
des Menschlichen durch die Naturwissenschaften erlebt und abgelehnt werden. Im
deutschsprachigen Raum wird dieser Konflikt noch durch die traditionelle Tren-
nung von Geistes- und Naturwissenschaften verstärkt. Hinzu kommt die Sorge um
neu entstehende manipulative Anwendungen der Hirnforschung, die sich in der öf-
fentlichen Debatte um neuroenhancement spiegelt. Parallel zur rasant wachsenden
Neurotechnik entsteht daher jetzt die akademische und außeruniversitäre Disziplin
der Neurotechnikfolgen-Abschätzung.

Im Folgenden soll der Geltungsanspruch der kognitiven Neurobiologie etwas
genauer beleuchtet werden: Was können wir eigentlich wirklich leisten? Um der
Klarheit willen werden wir von besonders prägnant formulierten, weitreichenden
Ansprüchen ausgehen. Diese Zuspitzung soll der Kritik im Wortsinne dienen: der
Unterscheidung von einlösbaren und nicht einlösbaren Versprechen. Keinesfalls
soll der Eindruck erweckt werden, die plakativ vorgetragenen Ansprüche seien
repräsentativ für die Mehrheit der Hirnforscher, die tatsächlich oft sehr vorsich-
tig und differenziert argumentieren! Es wird auch nicht versucht, im technischen
Detail die Lösbarkeit oder Unlösbarkeit inner-wissenschaftlicher Fragestellungen
vorherzusagen. Es kann in einer Metadiskussion nur um die Definition des Gel-
tungsbereiches von Neurobiologie gehen, wogegen die Entscheidung einzelner Fra-
gestellungen dieser Disziplin Gegenstand der Forschung belieben muss. Hätten die
fachfernen Skeptiker recht behalten, wäre unsere Erde immer noch eine Scheibe,
unser Stoffwechsel würde von einer geheimnisvollen Lebenskraft befeuert und die
Schizophrenie würde von liebesunfähigen Müttern verursacht. Rückzugsgefechte,
die dem jeweils noch nicht ganz vollständig Erklärten einen metaphysischen Status
verleihen, haben also wenig Sinn. Auf diese Weise münden dringend notwendige
Diskussionen in Scheingefechten mit absehbaren Niederlagen der Geisteswissen-
schaften, zum Schaden Letzterer und besonders zum Schaden des Dialogs.

Umgekehrt ist naturwissenschaftliche Forschung natürlich nicht sakrosankt. Sie
stellt einen besonderen, nicht automatisch prioritären methodischen Zugang zu aus-
gewählten Phänomenen dar. Sie ist nicht der einzig mögliche und legitime Zugang
zur Welt. Sie findet keine ewigen Wahrheiten, sondern das, was innerhalb einer
ganz bestimmten gesellschaftlichen Praxis zu finden ist (in unserem Fall eben in-
nerhalb der neurobiologischen Forschung). Um mit Vertretern anderer Traditionen
 
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