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Hilgert, Markus [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft — Berlin, Heidelberg, 54.2010(2012)

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Draguhn, Andreas: Angriff auf das Menschenbild? Erklärungsansprüche und Wirklichkeit der Hirnforschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.16708#0280

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16 Angriff auf das Menschenbild?

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(„Sprachspiele") auf einer metasprachlichen Ebene kommunizieren zu können,
muss sie Übersetzungsarbeit leisten und sich den konkurrierenden oder komple-
mentären Zugängen dann auf Augenhöhe aussetzen (Janich 2009). Diese Überset-
zung kann nur dann gelingen, wenn die Naturwissenschaftler selbst sich über die
impliziten Voraussetzungen ihres Handelns klar werden und diese offen legen. Der
Dialog mit anderen Traditionen setzt also voraus, die eigenen Argumentationsmus-
ter zu kennen und daher relativieren zu können. Dies soll im Folgenden anhand der
kognitiven Neurowissenschaften angedeutet werden.

Die starke These der kognitiven Neurowissenschaften

Wir gehen von einem starken Geltungsanspruch der Hirnforschung aus, der sich
in unterschiedlicher Ausprägung - oft nur implizit- in wissenschaftlichen und
populären Texten über das Gehirn findet. Wir beschränken uns dabei auf „kog-
nitive" Neurowissenschaften, die sich mit Themen wie Denken, Wahrnehmen,
Fühlen und Handeln befassen, kurz: mit der Analyse „höherer" Funktionen.
Natürlich gibt es zahlreiche andere Themen der Hirnforschung, die anthropo-
logisch und wissenschaftstheoretisch keineswegs unergiebig sind: die begrenzte
Regenerationsfähigkeit des menschlichen Gehirns; die Ontogenese (Reifung)
des Gehirns; unsere evolutive Stellung im Vergleich zu anderen Lebewesen;
homöostatische Funktionen des Nervensystems für den Gesamt-Organismus und
viele mehr. Das provokante Spezifikum der Hirnforschung wird aber dort am
deutlichsten, wo die Frage nach der neuronalen Basis „höherer" Funktionen ge-
stellt wird. Wir gehen daher hier von einer starken These eben dieser kognitiven
Hirnforschung aus:

„Höhere Funktionen" wie Denken, Wahrnehmen, Handeln und Fühlen sind eigentlich
Funktionen des Gehirns. Sie lassen sich auf elementare molekulare und zelluläre Prozesse
zurückführen und gehören damit letztendlich zum Geltungsbereich der Physik.

Als Folge dieser These - und der zu beobachtenden Entwicklung akademischer For-
schung- werden immer mehr Gegenstände von der Neurobiologie vereinnahmt, die
traditionell zu anderen Disziplinen wie der Psychologie gehörten. Während dieser
Prozess eher begrenzte Konflikte und Verteilungskämpfe innerhalb akademischer
Kreise hervorruft, wird es bei einer radikalen Erweiterung der These wirklich kon-
trovers: Wenn mentale Funktionen „eigentlich" physische Funktionen des Gehirns
sind, fallen letztlich alle Wissenschaften vom Menschen in den Geltungsbereich der
Neurobiologie, also auch solche, die sich traditionell aus nicht-naturwissenschaft-
lichen Kategorien begründen. Wir können somit die starke These der kognitiven
Neurowissenschaften wie folgt erweitern:

Die Resultate der Hirnforschung liefern kausale Erklärungen menschlichen Verhaltens und
haben daher Autorität für normative (also kategorial verschiedene) Wissenschaften und
gesellschaftlicher Praktiken. Wir erstrecken also den Geltungsanspruch auf Bereiche von
Ethik und Recht, aber auch Pädagogik, Ästhetik, Theologie und vieles Andere.
 
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