Kapitel 3
Menschenbilder in der altgriechischen Kunst
Tonio Hölscher
Im Jahr 720 v. Chr. soll Orsippos aus Megara bei den Spielen in Olympia als ers-
ter seine Kleider abgelegt haben und mit nacktem Körper zum Wettlauf angetreten
sein. Der Reiseschriftsteller Pausanias sah noch im 2. Jahrhundert n. Chr. auf der
Agora von Megara das Grab des Orsippos, der auch als Feldherr hervorgetreten
war; bis in die Spätantike verkündete eine Inschrift, er habe als erster nackt den
Siegeskranz erhalten. Andere Schriftquellen nennen Männer aus Sparta und Kreta
als Urheber des Brauchs, athletische Übungen und Wettkämpfe mit nacktem Körper
zu bestreiten. Was immer hier Legende oder Wahrheit ist, die Überlieferung macht
zum einen deutlich, dass es sich um ein zentrales Phänomen der griechischen Kul-
tur handelte, das mit hoher Bedeutung verbunden war und für das mehrere Städte
die Priorität beanspruchten. Zum anderen wird dabei impliziert, dass dieser Brauch
nicht seit Urzeiten gepflegt, sondern in der Frühzeit der griechischen Geschichte
neu begründet wurde. In Olympia wurde die Einführung ein halbes Jahrhundert
nach Gründung der Spiele angesetzt.
Der nackte Körper war für die Griechen nicht wie in der christlichen Religion
oder in den Kulturutopien des späten 19. Jahrhunderts ein Phänomen eines natur-
haften oder paradiesischen Urzustands, sondern eine kulturelle Neuschöpfung von
größter Bedeutung und weitreichenden komplexen Folgen: Die gesamte griechische
Lebenskultur war in einem hohen Maß auf den menschlichen Körper orientiert: Was
der Mensch leistete und erlitt, bewirkte und erfuhr er unmittelbar mit den Kräften
des eigenen Körpers, und wie er die Welt sah und verstand, geschah vielfach nach
dem Paradigma von Körpern. Im nackten Körper haben diese Auffassungen einen
pointierten Ausdruck gefunden.
Die Entstehung des Körpers als Leitmotiv der Lebenskultur fiel in die Epoche
der Entstehung der Polis, des autonomen Stadtstaates, als archetypische Lebens-
form der Griechen. Am Körper wurden die zentralen sozialen Rollen des Polis-Bür-
gers definiert und performativ dargestellt.
T. Hölscher (El)
Institut für Klassische Archäologie, Universität Heidelberg, Marstallhof 4,
69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: tonio.hoelscher@zaw.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder,
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6 3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Menschenbilder in der altgriechischen Kunst
Tonio Hölscher
Im Jahr 720 v. Chr. soll Orsippos aus Megara bei den Spielen in Olympia als ers-
ter seine Kleider abgelegt haben und mit nacktem Körper zum Wettlauf angetreten
sein. Der Reiseschriftsteller Pausanias sah noch im 2. Jahrhundert n. Chr. auf der
Agora von Megara das Grab des Orsippos, der auch als Feldherr hervorgetreten
war; bis in die Spätantike verkündete eine Inschrift, er habe als erster nackt den
Siegeskranz erhalten. Andere Schriftquellen nennen Männer aus Sparta und Kreta
als Urheber des Brauchs, athletische Übungen und Wettkämpfe mit nacktem Körper
zu bestreiten. Was immer hier Legende oder Wahrheit ist, die Überlieferung macht
zum einen deutlich, dass es sich um ein zentrales Phänomen der griechischen Kul-
tur handelte, das mit hoher Bedeutung verbunden war und für das mehrere Städte
die Priorität beanspruchten. Zum anderen wird dabei impliziert, dass dieser Brauch
nicht seit Urzeiten gepflegt, sondern in der Frühzeit der griechischen Geschichte
neu begründet wurde. In Olympia wurde die Einführung ein halbes Jahrhundert
nach Gründung der Spiele angesetzt.
Der nackte Körper war für die Griechen nicht wie in der christlichen Religion
oder in den Kulturutopien des späten 19. Jahrhunderts ein Phänomen eines natur-
haften oder paradiesischen Urzustands, sondern eine kulturelle Neuschöpfung von
größter Bedeutung und weitreichenden komplexen Folgen: Die gesamte griechische
Lebenskultur war in einem hohen Maß auf den menschlichen Körper orientiert: Was
der Mensch leistete und erlitt, bewirkte und erfuhr er unmittelbar mit den Kräften
des eigenen Körpers, und wie er die Welt sah und verstand, geschah vielfach nach
dem Paradigma von Körpern. Im nackten Körper haben diese Auffassungen einen
pointierten Ausdruck gefunden.
Die Entstehung des Körpers als Leitmotiv der Lebenskultur fiel in die Epoche
der Entstehung der Polis, des autonomen Stadtstaates, als archetypische Lebens-
form der Griechen. Am Körper wurden die zentralen sozialen Rollen des Polis-Bür-
gers definiert und performativ dargestellt.
T. Hölscher (El)
Institut für Klassische Archäologie, Universität Heidelberg, Marstallhof 4,
69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: tonio.hoelscher@zaw.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder,
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6 3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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