N°. 42.
K u n ft -Blatt.
Donnerstag, 27. M a i 1 8 3 0.
Thörwaldscn's Christus- und Apostel-Statuen.
(Beschluß.)
' Wir glauben in den bisherigen Andeutungen zur Ge-
«l'ige dargethan zu haben, wie richtig und vollständig der
Moment uns erscheint, in welchem Thorwaldsen den
Erlöser anfgefaßt hat. Er hat nicht blos den Wunder-
thäter, nicht blos den Lehrer und Propheten, nicht blos
den zum Leiden bestimmten und durch seinen Tod faktisch
die Welt versöhnenden, sondern den Erlöser in seiner
-menschlichen Persönlichkeit dargestellt, in welcher sich jene
verschiedenen Richtungen seines Werkes gleichmäßig durch-
dringen und ans ihren großen Zweck, daß es Friede werde
und des Vaters Wille auf Erden, wie im Himmel ge-
schehe, Hinweisen. In dieser Auffassung ist Thorwaldsen
ganz original, und macht durch die Idee seines Christus
in der Geschichte christlicher Kunst Epoche.
Nicht so völlig aber ist unsere Zustimmung bei der
formellen Seite dieser Idee. Der Erlöser ist großartig
und gebietend in der Darstellung, und es tritt alles, was
wir zuvor angedeutet haben als Grundansicht des Bildes,
aus dem fertigen Bilde mit solcher Klarheit hervor, daß
dem Betrachtenden kein Zweifel bleibt, unter welchen Ver-
hältnissen und in welcher Handlung begriffen er sich den
göttlichen Meister vorznstellen habe. Gleichwohl fehlt es
dem Bilde unseres Erachtens an jener Milde, ohne welche
der innere Friede des Herrn nie bestehen konnte, an jener
heiteren Menschenliebe, von welcher sein Ernst und seine
Hoheit geheiligt waren. In der Physiognomie des Chri-
stus bei Thorwaldsen gibt sich eigentlich nur des Herrn
eigener innerer Friede, sein über allen Kamps der Lei-
denschaften und Begierden erhabenes, von dem Gefühl
eigener Schuld unberührtes Selbstbcwußkseyn kund. Er
hat ein vollkommen affektloses Gesicht. Diesen Ausdruck
hervorzubringen und dabei abstoßende Härte zu vermeiden,
ist allerdings nur dem großen Künstler verliehen. Aber
das Affektlose allein ist wohl nicht der Charakter Jesu, der
mit den Fröhlichen sich freute und mit den Trauernden
trauerte, obwohl er leidenschaftlos, ohne niedrige Regun-
gen und gemeines Verlangen war. Affektlosigkeit mag
der Stoiker zum Ideale menschlicher Vollkommenheit stem-
peln. In ihr mag sich der kategorische Imperativ der
kritischen Schule personificiren. Aber das Leben, das in
Christo wohnte und in Worten und Werken des Erlösers
bezeugt wird, findet seinen eigenen Frieden nicht blos in
dem Siege des Geistes über die eigenen sinnlichen Triebe,
sondern auch in der Theilnahme an allem Menschlichen,
in der Sorge für das Ganze, in dem Opfer für die Welt.
Bei dem ernsthaftesten Momente seines Lebens und seiner
Leiden muß der Zug der Liebe in Jesu Angesichte vor-
herrschen, wie der Geist der Liebe in allen seinen, noch so
strengen Vorträgen, das Gebot der Liebe in allen seinen
noch so vielseitigen Anordnungen vorherrscht. In ihm
offenbarte sich nicht der nach unvollkommenen menschlichen
Begriffen gerechte Richter, vor dem Israel in den Staub
fiel, sondern die heilige Liebe, der erbarmende, erziehende
Vater, der nicht will, daß von den Geschaffenen irgend
eines verloren gehe, und zu dem sich mit andächtiger
Sehnsucht alle wenden, um in dem Lichte seiner Gnade
zu stehen und in der Kraft seines Geistes wiedergeboren
zu wandeln. Diese Gnadensonne nun sehen wir in dem
Angesichte des Thorwaldsen'schen Christus nicht leuchten,
da doch zunächst in der Scene, ans welche sich die Auf-
fassung der Figur bezieht, Jesu Eintritt so beschaffen sepn
mußte, daß die Jünger eine ungetheilte Freude über sei-
nem Wiedersehen empfinden konnten; was in der That
nicht der Fall würde gewesen sepn, wenn sie nicht Vor-
und Mitfreude an ihrer Beseligung in des Meisters An-
gesichte erkannt hatten. Mag er auch im Verlaufe der
Unterredung ihre Herzenshärtigkeit, wie die Schrift be-
zeugt, ernstlich getadelt und diesen Tadel mit einer ent-
sprechenden Miene voll Ernstes und wohl auch väterlicher
Betrübniß ausgesprochen haben; so läßt es sich doch wohl
nicht anders denken, als daß er, nicht mit affektloscr
Ruhe, sondern mit einer, wenn auch noch so leise ausge-
drückten Empfindung — und in dieser war doch gewiß
der Schmerz von der Freude, der Zweifel von dem Ver-
trauen, der Unmuth von der Liebe seines göttlichen Her-
zens verschlungen — unter die Jünger cingetreten sey.
So vollendet in seiner Art der Christuskopf Thorwaldsen'S
K u n ft -Blatt.
Donnerstag, 27. M a i 1 8 3 0.
Thörwaldscn's Christus- und Apostel-Statuen.
(Beschluß.)
' Wir glauben in den bisherigen Andeutungen zur Ge-
«l'ige dargethan zu haben, wie richtig und vollständig der
Moment uns erscheint, in welchem Thorwaldsen den
Erlöser anfgefaßt hat. Er hat nicht blos den Wunder-
thäter, nicht blos den Lehrer und Propheten, nicht blos
den zum Leiden bestimmten und durch seinen Tod faktisch
die Welt versöhnenden, sondern den Erlöser in seiner
-menschlichen Persönlichkeit dargestellt, in welcher sich jene
verschiedenen Richtungen seines Werkes gleichmäßig durch-
dringen und ans ihren großen Zweck, daß es Friede werde
und des Vaters Wille auf Erden, wie im Himmel ge-
schehe, Hinweisen. In dieser Auffassung ist Thorwaldsen
ganz original, und macht durch die Idee seines Christus
in der Geschichte christlicher Kunst Epoche.
Nicht so völlig aber ist unsere Zustimmung bei der
formellen Seite dieser Idee. Der Erlöser ist großartig
und gebietend in der Darstellung, und es tritt alles, was
wir zuvor angedeutet haben als Grundansicht des Bildes,
aus dem fertigen Bilde mit solcher Klarheit hervor, daß
dem Betrachtenden kein Zweifel bleibt, unter welchen Ver-
hältnissen und in welcher Handlung begriffen er sich den
göttlichen Meister vorznstellen habe. Gleichwohl fehlt es
dem Bilde unseres Erachtens an jener Milde, ohne welche
der innere Friede des Herrn nie bestehen konnte, an jener
heiteren Menschenliebe, von welcher sein Ernst und seine
Hoheit geheiligt waren. In der Physiognomie des Chri-
stus bei Thorwaldsen gibt sich eigentlich nur des Herrn
eigener innerer Friede, sein über allen Kamps der Lei-
denschaften und Begierden erhabenes, von dem Gefühl
eigener Schuld unberührtes Selbstbcwußkseyn kund. Er
hat ein vollkommen affektloses Gesicht. Diesen Ausdruck
hervorzubringen und dabei abstoßende Härte zu vermeiden,
ist allerdings nur dem großen Künstler verliehen. Aber
das Affektlose allein ist wohl nicht der Charakter Jesu, der
mit den Fröhlichen sich freute und mit den Trauernden
trauerte, obwohl er leidenschaftlos, ohne niedrige Regun-
gen und gemeines Verlangen war. Affektlosigkeit mag
der Stoiker zum Ideale menschlicher Vollkommenheit stem-
peln. In ihr mag sich der kategorische Imperativ der
kritischen Schule personificiren. Aber das Leben, das in
Christo wohnte und in Worten und Werken des Erlösers
bezeugt wird, findet seinen eigenen Frieden nicht blos in
dem Siege des Geistes über die eigenen sinnlichen Triebe,
sondern auch in der Theilnahme an allem Menschlichen,
in der Sorge für das Ganze, in dem Opfer für die Welt.
Bei dem ernsthaftesten Momente seines Lebens und seiner
Leiden muß der Zug der Liebe in Jesu Angesichte vor-
herrschen, wie der Geist der Liebe in allen seinen, noch so
strengen Vorträgen, das Gebot der Liebe in allen seinen
noch so vielseitigen Anordnungen vorherrscht. In ihm
offenbarte sich nicht der nach unvollkommenen menschlichen
Begriffen gerechte Richter, vor dem Israel in den Staub
fiel, sondern die heilige Liebe, der erbarmende, erziehende
Vater, der nicht will, daß von den Geschaffenen irgend
eines verloren gehe, und zu dem sich mit andächtiger
Sehnsucht alle wenden, um in dem Lichte seiner Gnade
zu stehen und in der Kraft seines Geistes wiedergeboren
zu wandeln. Diese Gnadensonne nun sehen wir in dem
Angesichte des Thorwaldsen'schen Christus nicht leuchten,
da doch zunächst in der Scene, ans welche sich die Auf-
fassung der Figur bezieht, Jesu Eintritt so beschaffen sepn
mußte, daß die Jünger eine ungetheilte Freude über sei-
nem Wiedersehen empfinden konnten; was in der That
nicht der Fall würde gewesen sepn, wenn sie nicht Vor-
und Mitfreude an ihrer Beseligung in des Meisters An-
gesichte erkannt hatten. Mag er auch im Verlaufe der
Unterredung ihre Herzenshärtigkeit, wie die Schrift be-
zeugt, ernstlich getadelt und diesen Tadel mit einer ent-
sprechenden Miene voll Ernstes und wohl auch väterlicher
Betrübniß ausgesprochen haben; so läßt es sich doch wohl
nicht anders denken, als daß er, nicht mit affektloscr
Ruhe, sondern mit einer, wenn auch noch so leise ausge-
drückten Empfindung — und in dieser war doch gewiß
der Schmerz von der Freude, der Zweifel von dem Ver-
trauen, der Unmuth von der Liebe seines göttlichen Her-
zens verschlungen — unter die Jünger cingetreten sey.
So vollendet in seiner Art der Christuskopf Thorwaldsen'S