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69

Stilgeschichte und Geschichte der Interpretation

Im folgenden Kapitel soll die Frage nach dem
Verhältnis zwischen dem Stil einer Nachzeich-
nung und ihrer Interpretation einer Statue erör-
tert werden, wobei Stil verstanden werden soll
als dasjenige, was den Zeichnungen einer be-
stimmten Zeit und eines bestimmten Ortes
oder aber im engeren Sinne der Werkphase
eines bestimmten Künstlers formal gemeinsam
ist.1«

Gegen das bisher Vorgetragene ließe sich ein-
wenden, daß Ludovico Cigolis Nachzeichnung
der Medicimadonna (Taf. 54) deshalb bewegter
ist als das ein halbes Jahrhundert ältere Blatt
nach der gleichen Skulptur von Raffaello da
Montelupo (Taf. 53), »weil sie spätmanieri-
stisch ist«. Ein solcher Einwand wurzelt in
einem bestimmten Verständnis des Stilphäno-
mens, das als Kunstgeschichte als Geschichte
des Sehens bezeichnet werden kann. Diese Posi-
tion gehört zwar inzwischen der Wissenschafts-
geschichte an, sie hat jedoch die deutschspra-
chige Kunstwissenschaft so tief geprägt, daß

eine kurze Auseinandersetzung mit ihr an die-
ser Stelle geboten erscheint. Etwas vereinfacht
lassen sich die Grundlinien der Kunstgeschichte
als Geschichte des Sehens in den folgenden
Thesen zusammenfassen: 1. Bilder sind Doku-
mente der Sichtweisen der Künstler: Der Künst-
ler malt, wie er sieht. 2. Stilistische Verän-
derungen beruhen auf Veränderungen der
Wahrnehmungsweise. 3. Solche Veränderungen
sind nicht individueller Art: Im Geschichts-
verlauf entwickelt sich das Sehen eines jeden
»Volkes«. Diese Ansichten gründen auf einem
Verständnis von Geschichte als Entwicklung
menschlicher Fähigkeiten, wie es in der Auf-
klärung formuliert wurde (Herder, Lessing). Sie
waren vor allem am Anfang des 20. Jahrhun-
derts zumal im deutschsprachigen Raum weit
verbreitet.1?0 Kein Wissenschaftler hat sie aller-
dings mit letzter Konsequenz vertreten, auch
nicht Heinrich Wölfflin, mit dem das Stichwort
Geschichte des Sehens vielfach verbunden
wird.1?1 Geht man davon aus, daß Wölfflins

149 Zur Geschichte des Stilbegriffes siehe Sauerländer

[1983].

150 Die Nähe zur allgemeinen Kulturgeschichte als Ge-
schichte der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten
wird besonders bei den Wiener Kunsthistorikern Mo-
ritz Thausing und Alois Riegl deutlich. In seiner pro-
grammatischen Antrittsvorlesung, bei der er die Kunst-
geschichte als notwendige Hilfswissenschaft einer
Kulturgeschichte definiert, schreibt Thausing: »Das
Menschengeschlecht hat eben erst allmählich sehen
gelernt, ganz so wie es allmählich feiner hören und
deutlicher sprechen lernen mußte. Und zwar hat es auf
jedem der beiden grossen [...] Culturgänge, auf dem des
Alterthums und dem der neueren Zeit, fast wieder von
vorne damit anfangen oder doch neue Anläufe dazu
nehmen müssen.« [1873, 16]. Riegl [1901], der zwi-
schen dem alten Ägypten und dem Impressionismus
eine zweifache Entwicklung vom »Haptischen« zum
»Optischen« beschreibt, führt diese Gedanken aus.
Allerdings erwähnt er Wickhoff, nicht aber Thausing
als Mitstreiter [1901, 7 ff.]. Vgl. Dilly [1979, 235].

Wie erfolgreich diese Gedanken in der geisteswis-
senschaftlichen Diskussion der ersten Hälfte des zo.
Jahrhunderts waren, zeigt etwa ihre Rezeption bei
Walter Benjamin [1936, 14]: »Innerhalb großer
geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der
gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva
auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.

Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahr-
nehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie
erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch ge-
schichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in
der die spätrömische Kunstindustrie und die Wiener
Genesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst
als die Antike, sondern auch eine andere Wahrneh-
mung. Die Gelehrten der Wiener Schule, Riegl und
Wickhoff, die sich gegen das Gewicht der klassischen
Überlieferung stemmten, unter dem jene Kunst begra-
ben gelegen hatte, sind als erste auf den Gedanken
gekommen, aus ihr Schlüsse auf die Organisation der
Wahrnehmung in der Zeit zu tun, in der sie in Geltung
stand.«
'51 Während Riegl die Entwicklung der Sinnesfähigkeit in
einen allgemein kulturhistorischen Rahmen einzubet-
ten versucht, zeichnet sich die Position Wölfflins
dadurch aus, daß er eine Veränderung des Sehens
unabhängig von der sonstigen Geschichte und sogar
von anderen menschlichen Sinnesorganen diagnosti-
ziert (Martin Warnke [1992] hat seine Suche nach
einer Autonomie der Form unterstrichen und in ihrem
historischen Kontext analysiert). Wölfflin hat in den
Kunstgeschichtlicben Grundbegriffen [1915] stilistische
Eigenschaften und deren Wandel zwischen >Klassik<
und >Barock< auf fünf Begriffspaare reduziert. Um so
auffälliger sind dagegen die vagen Formulierungen,
mit denen er ihren Ursprung behandelt [vgl. Gom-
 
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