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86

Die Interpretation der Mediciskulpturen in Beschreibungen und Nachzeichnungen

der Figur immer deutlicher einem Oval ange-
glichen (Taf. 35, Taf. 41 und Taf. 43).

Die Sprache der Beschreibung hat viel später
als die Zeichnung Mittel entwickelt, auf Kom-
positionslinien hinzuweisen. Die notwendigen,
meist der Geometrie entlehnten Begriffe wur-

den erst im 19. Jahrhundert bei der Beschrei-
bung der Mediciskulpturen verwendet. Da-
durch wurden Kompositionslinien einzelner
Statuen zunehmend detailliert beschrieben (vgl.
oben S. 44).

Die Interpretationsgeschichte der >Ansichtigkeit<

Die plastische Gestalt ist konstitutive Eigen-
schaft der Skulptur. Doch wird nicht jede Sta-
tue für unterschiedliche Ansichten konzipiert.
Inwieweit Bildhauer damit rechnen, daß ihre
Werke von mehreren Standorten aus gesehen
werden können oder sollen, hängt nicht zuletzt
mit der vorgesehenen Aufstellung zusammen
und ändert sich im Lauf der Geschichte.'"•* Für
die Skulpturen Michelangelos fehlt bislang eine
eingehende Untersuchung dieser Frage.1''

Befragt man Nachzeichnungen und Beschrei-
bungen über die Ansichtigkeit der Skulpturen,
dann ist ein grundlegender Unterschied zu
berücksichtigen: Der Schriftsteller kann sich
frei in der Kapelle bewegen, die Skulpturen von
allen Seiten anschauen und seine Beobach-
tungen in einen Text einfließen lassen. Das Pro-
blem der Ansicht braucht dabei nicht erwähnt
zu werden und wurde in der Tat nur selten
besprochen. Der Künstler muß dagegen einen
Standort auswählen, wenn er die Skulpturen
zeichnen will: eine bestimmte Ansicht. Gege-
benenfalls - und dies kommt öfter vor - kann

er nacheinander aus verschiedenen Perspektiven
zeichnen. Wie bereits erwähnt (S. 58 ff.), sind
jahrhundertelang Zeichnungen nicht nur nach
Michelangelos Skulpturen, sondern auch nach
ihren plastischen Nachbildungen entstanden.
Da solche Zeichnungen nach kleinen Bronzen
und Terrakotten nur indirekte Interpretationen
der Statuen sein können, wurden sie in der vor-
liegenden Studie ausgelassen. Doch sollte
erwähnt werden, daß sich solche indirekte
Nachzeichnungen gerade bei der Wahl der
Ansicht von denen unterscheiden, die in der
Kapelle entstanden sind. Plastische Nachbil-
dungen der Mediciskulpturen wurden bei-
spielsweise in der Werkstatt Tintorettos als
Studienmaterial verwendet, um sich in der Dar-
stellung von Verkürzungen und Beleuchtungs-
effekten zu üben.1?6 Dadurch ergeben sich viel-
fach ausgefallene, sogar abstruse Blickwinkel
(Abb. 11), die in der Sakristei selbst in dieser
Zeit nie eingenommen wurden.

In Hinblick auf die Frage der Ansichtigkeit
ist ein Vergleich der Rezeption beider weib-

174 Leider fehlen überhaupt ausführliche Untersuchungen
dieser Frage für weite Strecken der Geschichte der
Skulptur. Zudem ist die begriffliche Verwirrung in die-
sem Bereich sehr groß. Ein Forschungsüberblick bei
Larsson [1974, 7 ff-1- Von den von Larsson nicht
mehr berücksichtigten Studien seien folgende hervor-
gehoben: Borbein [1973] ß** die klassische griechi-
sche Skulptur des 5. und 4. Jahrhunderts, Meyer
[1986] zu hellenistischen und Kuhn [1980] zu
barocken Beispielen.

175 Überlegungen dazu stammen insbesondere von Cico-
gnara [II, 1816, Z87], Delacroix [Journal, 9.5.1853],
Wölfflin [1896, 228 und 1898, passim], Justi [1900,
371 - 376], Löwy [1915, 25 ff.], Aru I1937], Panof-

sky [1939, dt. 1980, 253 ff.], Mariani [1942, passim],
Laux [1943, 336 f.], Tolnay [1949, Werk und Welt-
bild, 102 f.], Rosenthal [1964], Pavlinov [1965] und
Guidoni [1970]. Kunsthistoriker haben mehrfach ver-
sucht, allgemeine Regeln für die Ansichtigkeit der
Skulpturen Michelangelos zu definieren und diese
innerhalb eines stilgeschichtlichen Entwicklungsrah-
mens zu positionieren: »[Der Gestaltungsvorgang bei
Michelangelo geht] von rundplastischen Vorstellungen
aus, zwingt aber hier die durch die Architektur beding-
te Skulptur in die Ansicht eines flächenmäßigen Umris-
ses hinein. [...] Einstellung der Erscheinungsform auf
eine Ansicht, die den ganzen Gehalt des Werks faßt, -
Entfaltung der Erscheinungsform in vielen Ansichten,
 
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