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54

Nachzeichnungen

Umriß des wohlgenährten >Putto< gewidmet. Er
umgibt das Kind mit ausgewählten Falten des
Madonnengewandes, die sich wie ein verstär-
kender Nachhall seiner Bewegung ausnehmen.

Am Beispiel der Zeichnung, die Rubens links
auf dem gleichen Blatt entworfen hat, läßt sich
hingegen die Entstehung einer Variation nach-
vollziehen. Da der Künstler Rechtshänder war,
ist anzunehmen, daß er diese Zeichnung vor
der besprochenen Skizze des Kindes auf der
rechten Blattseite anfertigte. Sie zeigt einen
etwas größeren Ausschnitt der gleichen Gruppe
in seitlicher Ansicht (vgl. Taf. 56a). Auch hier
kam es ihm vor allem auf die Bewegung des
Kindes an, dessen stürmische Rückwendung er
steigert. Hinter dem Rücken des Kindes und
unter seinen Beinen sind die Stoffmassen des
Mariengewandes, oben die Andeutung ihres
Kopfes erkennbar. Weniger deutlich sind der
dem Vorbild entsprechende linke Unterschen-
kel und der Fuß des Kindes sowie die unter sei-
ner Achsel befindliche mütterliche Hand ge-
zeichnet. In einem zweiten Schritt überarbeitet
Rubens diese Studie zu einer Variation: Um die

Glaubwürdigkeit des Organischen nicht zu ver-
lieren, verschiebt er das linke Bein des Knaben
über das der Jungfrau. Zugleich entwirft er
eine neue Position für die milchspendende
Mutter: Die rechte Hand des Kindes greift
unter ihren Mantel und sucht nach der um
etwa neunzig Grad gedrehten Brust. So entsteht
eine neue Figurengruppe, eine Variation des
Themas >heftig bewegtes Kind, das nach der
Mutterbrust sucht<, die ihren Ursprung bei der
Medicimadonna nicht verleugnet, sich davon
jedoch deutlich entfernt.

Variationen wie die linke Zeichnung von
Rubens sind zu Recht als produktive Kopien<
bezeichnet worden. Sie spielen nicht nur bei
Rubens eine wichtige Rolle für die Entwick-
lung eigener Kompositionen."»In ihnen durch-
dringen sich Rezeption und Produktion. Solche
Variationen und die mit ihnen verbundenen
komplexen Rezeptionsprozesse110 bleiben je-
doch von der vorliegenden Untersuchung aus-
geklammert, obgleich die Grenze zwischen
Nachzeichnung und Variation nicht immer ein-
deutig gezogen werden kann.

Geschichte und Funktion
der Nachzeichnungen der Mediciskulpturen

Die tabellarische Übersicht (S. 254) zeigt, daß
das Interesse von Künstlern am Zeichnen der
Skulpturen der Neuen Sakristei und insbeson-
dere der vier Tageszeiten stets sehr ausgeprägt
war und - abgesehen von einer allgemeinen

im 17. und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts -
konstant blieb.

Drei wesentliche Beweggründe lassen sich
nennen, die Künstler dazu veranlaßten, die
Grabkapelle der Medici aufzusuchen und

Abschwächung des Interesses für Michelangelo Nachzeichnungen im Sinne der oben vorge-

119 Eine Analyse über die Bedeutung dieses Verfahrens
haben Grundmann [1987J für Tizian und Hubala
[1992 mit weiterer Literatur] für Rubens vorgenom-
men. Der entsprechende englische Begriff der >creative
copy< ist allerdings insofern mißverständlich, als er -
etwa in der Ausstellung von Haverkamp-Begemann
[1988] - sowohl für freie Variationen als auch für
Nachzeichnungen verwendet worden ist.

IZO Zu diesen Rezeptionsprozessen gehört einerseits das
Phänomen der entlehnten Figur [siehe zuletzt Irle
1987] andererseits das Zitat im allgemeinen, das in der

sogenannten >Postmoderne< besonders aktuell gewor-
den ist und dem mehrere Ausstellungen gewidmet
worden sind: Leverkusen [1966], Lugano [1971],
Kassel [1977, III, 16 ff.], New York [1978], Hanno-
ver [1979] und Wien [1994].
Siehe den Auszug des Textes S. 130.
»[...] non rimase cosa notabile allora in Roma, ne poi
in Fiorenza ed altri luoghi, ove dimorai, la quäle io in
mia gioventü non disegnassi; e non solo di pitture, ma
anche di sculture ed architetture antiche e moderne; ed
oltre al frutto ch'io feci in disegnando la volta e cap-
 
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