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Die Interpretation der Mediciskulpturen in Beschreibungen und Nachzeichnungen
Die Interpretationsgeschichte des non-finito
Michelangelos sogenanntes >non-finito<, die
Frage, ob, inwiefern und warum viele seiner
Statuen nicht vollendet sind, wird seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts intensiv diskutiert.
Bereits 1556 gelten für den Humanisten Pierio
Valeriano die Skulpturen der Neuen Sakristei
als Exempel von unvollendeten und doch
unschätzbaren Werken.'87 1591 schreibt Fran-
cesco Bocchi von den kurz zuvor in einer
künstlichen Grotte im Boboli-Garten aufge-
stellten Sklaven: >Fürwahr, diese Statuen sind
so wie sie sind herrlicher, als wenn sie ganz
vollendet wären, und sie werden von den
besten Künstlern mehr bewundert, aufgesucht
und betrachtet, als wenn sie durch Buonarroti
den letzten Schliff erhalten hätten. <l8S Überle-
gungen über das non-finito nehmen bis heute
eine zentrale Position sowohl in der Rezeption
der Medicigräber als auch in der Diskussion
über die Skulptur Michelangelos ein.18»
Die Problematisierung und Deutung des
Unvollendeten hat sich vorrangig in der schrift-
lichen Rezeption abgespielt: Nur wenige Nach-
zeichnungen können oder wollen den Unter-
schied von polierter und erst bossierter Fläche
wiedergeben. Der Entwurfscharakter des bos-
sierten Marmorwerks findet vielmehr in der
Skizzenhaftigkeit vieler Zeichnungen eine Ent-
sprechung (etwa Taf. 57). Dies ändert sich,
wenn ein Zeichner Anspruch auf eine detaillier-
te Wiedergabe erhebt, insbesondere da, wo
Zeichnungen als Vorlagen für Druckgrafik die-
15 Anonymus, Schiavo barbuto, Umrißstich, in:
Duppa [1806, Sculpture, III. XIII]
ija Michelangelo, Schiavo barbuto
Die Interpretation der Mediciskulpturen in Beschreibungen und Nachzeichnungen
Die Interpretationsgeschichte des non-finito
Michelangelos sogenanntes >non-finito<, die
Frage, ob, inwiefern und warum viele seiner
Statuen nicht vollendet sind, wird seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts intensiv diskutiert.
Bereits 1556 gelten für den Humanisten Pierio
Valeriano die Skulpturen der Neuen Sakristei
als Exempel von unvollendeten und doch
unschätzbaren Werken.'87 1591 schreibt Fran-
cesco Bocchi von den kurz zuvor in einer
künstlichen Grotte im Boboli-Garten aufge-
stellten Sklaven: >Fürwahr, diese Statuen sind
so wie sie sind herrlicher, als wenn sie ganz
vollendet wären, und sie werden von den
besten Künstlern mehr bewundert, aufgesucht
und betrachtet, als wenn sie durch Buonarroti
den letzten Schliff erhalten hätten. <l8S Überle-
gungen über das non-finito nehmen bis heute
eine zentrale Position sowohl in der Rezeption
der Medicigräber als auch in der Diskussion
über die Skulptur Michelangelos ein.18»
Die Problematisierung und Deutung des
Unvollendeten hat sich vorrangig in der schrift-
lichen Rezeption abgespielt: Nur wenige Nach-
zeichnungen können oder wollen den Unter-
schied von polierter und erst bossierter Fläche
wiedergeben. Der Entwurfscharakter des bos-
sierten Marmorwerks findet vielmehr in der
Skizzenhaftigkeit vieler Zeichnungen eine Ent-
sprechung (etwa Taf. 57). Dies ändert sich,
wenn ein Zeichner Anspruch auf eine detaillier-
te Wiedergabe erhebt, insbesondere da, wo
Zeichnungen als Vorlagen für Druckgrafik die-
15 Anonymus, Schiavo barbuto, Umrißstich, in:
Duppa [1806, Sculpture, III. XIII]
ija Michelangelo, Schiavo barbuto